Über Distinktionsbedürfnisse

„Alles in allem wurde dem Konsumenten von Kunst vermutlich noch nie derart viel abverlangt wie heute, da er aufgerufen ist, den künstlerischen Prozeß zu re-produzieren, in dem der Künstler (unter Mithilfe des gesamten intellektuellen Feldes) den neuen Fetisch geschaffen hat. Vermutlich wurde ihm aber auch noch nie derart viel wieder zurückgegeben: Der naive Exhibitionismus des „ostentativen Konsums“, der Distinktion in der primitiven Zurschaustellung eines Luxus sucht, über den er nur mangelhaft gebietet, ist ein Nichts gegenüber der einzigartigen Fähigkeit des „reinen Blicks“, dieser gleichsam schöpferischen Macht, die kraft radikaler, weil scheinbar den „Personen“ selbst immanenter Differenzen vom Gemeinen scheidet.

Ein Blick in Ortega y Gassets Werk läßt zur Genüge ermessen, in welchem Unfang die charismatische Begabungsideologie Bekräftigung zieht aus der modernen Kunst, die in seinen Augen „wesentlich volksfremd; mehr als das, … volksfeindlich (ist)“ sowie aus dem „merkwürdigen Effekt“, den diese hervorruft, indem sie das Publikum, die Masse, in zwei „gegensätzliche Gruppen“, in zwei „Kasten“ trennt: „die verstehen“ und „die nicht verstehen“. „Das schließt ein“, so fährt unser Autor fort, „daß die einen ein Aufnahmeorgan besitzen, das den anderen offenbar versagt ist; daß es sich um zwei Varietäten der Spezies Mensch handelt. Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit“. Und die Irritation, die sie bei der Masse hervorruft, die „nicht fähig ist, das Sakrament der Kunst zu empfangen“, schreibt er der Demütigung zu und dem „trübe(n) Bewußtsein von Unterlegenheit“, das diese „Kunst der Bevorrechtigten, des Nervenadels, der Instinktaristokratie“ bewirkt. „Anderthalb Jahrhundert lang hat das Volk behauptet, es sei die ganze Gesellschaft. Strawinskis Musik und Pirandellos Drama kommt eine soziologische Wirkungskraft zu, die es zwiengt, sich als das zu erkennen, was es ist, als „nichts als Volk“, als einen Baustein neben vielen im sozialen Verband, als träges Substrat des historischen Prozesses, als eine Nebensache im Kosmos des Geistes. Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen und ihre Mission begreifen: wenig sein und gegen viele kämpfen.“(1)

Und als überwältigender Beweis, daß die selbstlegitimatorische Einbildungskraft der happy few keine Grenzen kennt, sei auch noch Susanne Langer zitiert, die nach einhelliger Meinung als eine der „world most influential philosophers“ angesehen werden darf: „Früher war den Massen der Zugang zur Kunst verwehrt; Musik, Malerei, ja selbst Bücher waren ausschließlich den Reichen vorbehaltene Vergnügen. Man konnte davon ausgehen, daß die Armen, der „Vulgäre“, sich gleichermaßen daran ergötzen würden, wäre ihnen nur erst die Möglichkeit zu solchem Genuß gegeben. Heute jedoch, wo jeder lesen, Museen besuchen, ernste Musik zumindest im Radio hören kann, ist das Urteil der Massen darüber zu einer Realität geworden – aber auch sinnfällig, daß große Kunst kein unmittelbar sinnliches Vergnügen ist („a direct sensous pleasure“). Andernfalls müßte sie, wie Kuchen oder ein Cocktail, dem ungebildeten wie dem kultivierten Geschmack schmeicheln.“(2)

1) J. Ortega y Gasset, „Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst“, Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 230 ff.
2) Susanne K. Langer, „On Significance in Music“ in Aesthetics and the Arts, Herausgeber Lee A. Jacobus, New York, 1968, S. 182–212, hier 183.“

Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“, Frankfurt am Main, 1982, S. 60–62.