Über den weiblichen Akt

„Der so genannte „klassische“ weibliche Akt wurde nicht vor der postklassischen Zeit in der griechischen Kunst geschaffen. Er wurde von dem Bildhauer Praxiteles im vierten Jahrhundert v. Chr. erfunden, dessen lebensgroße Statue der Aphrodite, aufgrund ihres antiken Standortes die Knidische Aphrodite genannt, uns nur durch römische Kopien bekannt ist. Diese Skulptur ist die Quelle einer großen Anzahl von Werken, die in der westlichen Kunstwelt Aphrodite oder Venus darstellen. Und sie wird nicht nur als der erste monumentale weibliche Akt häufig nachgebildet, sondern auch und zuvorderst, weil sie die Erste ist, die ihre Scham bedeckt. Dieser Gestus wird immer wieder aus Ausdruck von Bescheidenheit angesehen, den die Alten „pudica“ nannten. Trotz seiner Bezeichnung bedeutet der Gestus weit mehr als Bescheidenheit. Er wurde in unserer Kultur als „natürlich“ internalisiert, d.h. wir verbinden mit ihm nicht mehr die Geschichte von Furcht, die eine Frau ausdrückt, die ihre Scham vor einem gewalttätigen Angriff zu schützen sucht. Die Pose der „Pudica“ ist für uns zum Inbegriff von Ästhetik und Kunstfertigkeit geworden. Trotzdem, wenn wir die naturalistisch geformte Skulptur einer Frau betrachten, die nicht gesehen werden will, spüren wir ein Kribbeln, selbst wenn wir unbewusst reagieren. Der Gestus mit all seinen Konnotationen ist auch mehr als ein Bild von Furcht und Zurückweisung. Nur durch das Setzen der Hand einer Frau über ihre „Pubis“ bewirkt Praxiteles – und mit ihm alle anderen, die dieses Mittel benutzt haben – ein Gefühl von Begehren im Betrachter und konstruiert die Reaktion eines Voyeurs. Sie wird in allen Betrachtern hervorgerufen, in Männern und Frauen, Hetero- und Homosexuellen. Dennoch sind es eindeutig männliche Heterosexuelle, die aufgefordert werden, ihr Begehren in sozial sanktionierte Handlung umzusetzen. Diese Handlung, die nicht mit privatem sexuellen Verhalten verwechselt werden darf, ist eher der öffentlich zur Schau gestellte Genuss an einer völlig sexualisierten weiblichen Form. Als hohe Kultur ist dieser Genuss synonym mit dem Gefallen an einem Kunstwerk, das von einem weiblichen Akt repräsentiert wird; als niedere Kultur ist dieses Gefallen synonym mit lüsternen Bemerkungen, die Männergruppen auf der Straße an Frauen richten. Schließlich schaffen die hohen und die niederen Kulturen des Gefallens, die von der „Pudica“ geprägt sind, spezielle Gelegenheiten für das gemeinsame Erleben männlicher Sexualität ohne offene homosexuelle Anklänge. Der weibliche Akt ist der Ort und das öffentliche Zur-Schau-Stellen von heterosexuellem Begehren ist das Mittel für Rituale männlicher Zusammengehörigkeit.“

Salomon, Nanette: „Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden“, in: Zimmermann, Anja: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung,* Berlin 2006, S. 37–52, hier S. 48/49.

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Kunst gucken: „Mondrian. Farbe“, Bucerius-Kunst-Forum Hamburg

Piet Mondrian (1872–1944) dient bei Quengelnden über abstrakte Kunst gerne als Beispiel für „kann ich auch“ oder „was solln das“. Genauer gesagt, sind es seine Kompositionen aus Linien und Farbflächen, die gerne für deppige Bemerkungen herhalten müssen. (Ich quengele lieber über dusselige Produktverpackungen, mag aber das Mondrian-Dress von Yves Saint Laurent sehr gerne.) Auch deswegen fand ich die Ausstellung Mondrian. Farbe im Bucerius-Kunst-Forum sehr gut, weil sie den Weg von Mondrians Landschaften im 19. Jahrhundert zu seinen Gitterbildern ganz einfach nachvollziehbar macht.

Mondrian-Ausstellung
Ausstellungsansicht „Mondrian. Farbe“, Foto: Ulrich Perrey.

In den ersten Räumen sehen wir eben diese Landschaften: Breite Pinselstriche und erdige, unverklärte Farbtöne werden langsam zu leicht abstrahierenden Flächen und Farben. Auch die Szenerie ändert sich fast unmerklich: Wo anfangs noch ein Hauch von Genremalerei zu spüren war, verzichtet Mondrian bald darauf, eine Geschichte erzählen zu wollen, eine Szene zu etablieren: Er schaut, malt, geht weiter. Es geht ihm scheinbar nicht mehr um die reine Abbildung, wenn auch durch seine Augen, sondern um einen flüchtigen Eindruck, der rasch festgehalten werden soll. Licht, Schatten, Nebel, Stimmungen werden wichtiger als das Motiv selber. Die Striche werden flächiger, die Szenerie abstrakter, aber dadurch auch – jedenfalls für mich – stimmungsvoller.

Ich gebe zu, ich bin (noch?) nicht der größte Fan von Landschaftsmalerei; vor Bildern mit Bäumen und Wolken und Seen stehe ich meist etwas ratlos. Das ist alles hübsch, und ich weiß auch um die Entwicklung von Fantasielandschaften in Bildern zu besonders schön angelegten echten, die gemalt wurden, weil sie eben so schön waren, bis hin zu Bildern im 19. Jahrhundert, wo das Zufällige in der Natur plötzlich Motiv war, aber irgendwas will da nicht zu mir sprechen. Ich gucke mir das an, finde es hübsch und habe es zwei Meter weiter wieder vergessen. Deswegen mag ich wahrscheinlich die Landschaften von van Gogh so gerne, weil sie nicht pur abbilden, sondern mir zeigen, was der Maler in ihnen gesehen hat – und das ist deutlich unvergesslicher. Mein Liebling ist der Blick auf Arles (1889), der praktischerweise in der Neuen Pinakothek hängt und vor Farbe, aber auch vor innerem Schmerz nur so strotzt. Das sieht man bei Mondrian nicht; in seinen Bildern spüre ich keine innere Spannung, die sich in Baum- und Himmelsdarstellungen ausdrückt, aber stattdessen ein intuitives Gefühl dafür, was gerade das Besondere in diesem Moment, an diesem Ort ist.

In den Nuller- und Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts begann Mondrian, seine Farbpalette zu erweitern: Aus den erdigen, weichen Tönen wurden kräftige Grundfarben, die seine Landschaften völlig veränderten. Das kann man hervorragend in der Ausstellung nachvollziehen, bei der man nicht mal einen Audioguide braucht. An den Wänden und an den Werken selbst stehen knappe, sehr informative Texte, die einem das nötige kunsthistorische Rüstzeug mitgeben. Und selbst wenn man sie nicht durchliest – die Hängung erklärt es genauso nachdrücklich.

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Piet Mondrian: „Zeeuws(ch)e Kerktoren (Kirchturm in Zeeland)“, 1911,
Öl auf Leinwand, 114 x 75 cm, Gemeentemuseum Den Haag.
© 2014 Mondrian/Holtzman Trust
c/o HCR International USA

Mein Liebling war Die rote Mühle (1911) und das obenstehende Werk, der Kirchturm in Zeeland (1911). Bei der Mühle mochte ich den Bildausschnitt; das Motiv muss nicht mehr ganz gezeigt werden, um zu wirken, gerade die Beschneidung macht es so spannend. Und beim Kirchturm gefiel mir die Farbe, die natürlich am Bildschirm nicht annähernd so wirken kann wie im Original. Das ganze Gebäude scheint nur noch aus Farbflächen zu bestehen, die Dreidimensionalität wird nur noch angedeutet; das Objekt ist nicht mehr wichtig, die Farbe ist es. Sonnenuntergangsrosa trifft auf Dämmerungsviolett, das Licht, das durch das Blätterdach fällt, schafft grüne und blaue Flächen, die Fenster der Kirche leuchten türkis, der Boden versinkt schon fast in Nachtblau. Vor dem Bild stand ich mindestens zehn Minuten und wollte es am liebsten mitnehmen.

Schließlich trennte ich mich doch und ging in den ersten Stock, wo genau die Bilder hängen, bei denen man so schön „kann ich auch“ sagen kann (wenn man doof ist). Die chronologische Hängung macht es auch hier ganz einfach, die Entwicklung nachzuvollziehen: von der Komposition im Oval mit Farbfeldern (1914), die noch die Pastelltöne der Landschaften mitzunehmen scheint über die Komposition mit Gitter 8 (1919, ebenfalls im letzten Link zu sehen), die erstmals in der Kunstgeschichte konsequent ein Raster nutzt, um das Bild zu unterteilen – bis hin zu den Kompositionen aus Linien und den drei Grundfarben. Anfangs nutzte Mondrian noch Schattierungen von Grau; es lässt erahnen, dass man Farben modellieren kann, um aus ihnen Körper entstehen zu lassen. Zum Schluss verzichtet Mondrian auch darauf – er konzentriert sich auf die Grundfarben, Weiß und Schwarz. Die einzige „Körperlichkeit“, die noch zu ahnen ist, sind die verschiedenen Richtungen, in die der Pinselstrich geht, der so eine kleine Dynamik in der Strenge erzeugt.

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Piet Mondrian: „Komposition mit Blau und Gelb“, 1932, Öl auf Leinwand, 45,4 x 45,4 cm, Denver Art Museum.
© 2014 Mondrian/Holtzman Trust
c/o HCR International USA

Leider nicht in der Pressedatenbank: die Komposition mit Linien und Farben III (1937), die ich persönlich am liebsten mochte. Auch vor diesem Bild stand ich gefühlt ewig rum, während hinter mir die BesucherInnen kurz anhielten, guckten, innerlicher Monolog wahrscheinlich: „Linien, blaues Rechteck, alles klar, hab ich, weiter“ und zum nächsten Bild gingen. Klar kann man so auf abstrakte Bilder gucken und ich gebe zu, auf die meisten neuen Richter-Bilder gucke ich inzwischen so. (Mein derzeitiges Lieblingsspiel in jedem zeitgenössischen Museum: Spot the Gerhard Richter. Funktioniert immer. Kurz den Blick schweifen lassen, ah, da hinten hängt er, alles klar, hab ich, weiter.) Man kann aber eben auch gefühlt ewig davor stehen. Mir ist bei diesem Bild zum ersten Mal aufgefallen, dass ich abstrakte Bilder genauso angucken kann wie nicht-abstrakte. Bei einem Raffael gucke ich immer nach der Feinheit des Heiligenscheins, nach den Augen und Lippen. Bei van der Weyden achte ich auf Hautgestaltung, Handhaltung, Faltenwurf der Kleidung. Bei einem van Gogh vertiefe ich mich in Pinselstrich und Farbauftrag. Und bei diesem Mondrian war ich damit beschäftigt, die Linienstärke zu betrachten, die nicht überall gleich ist. Ich habe geschaut, ob alle Linien bis an den Bildrand gehen (gehen sie nicht). Wie dicht sie aneinander liegen bzw. wie weit auseinander. Wo kreuzen sich Linien, wo stoßen sie nur aufeinander? Das Bild hat mir durch die intensive Betrachtung die gleiche innere Ruhe bzw. Transzendenz vermittelt wie die angesprochenen Raffaels und van der Weydens, vor denen ich ähnlich lange stehe und mich schlicht in ihnen und ihren Details verliere. Das habe ich selten vor einem abstrakten Gemälde, und daher war ich freudig überrascht, als ich entdeckte, dass das auch möglich ist.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 11. Mai, ist täglich von 11 bis 19 Uhr (Donnerstags bis 21 Uhr) geöffnet und kostet 8 Euro Eintritt (ermäßigt 5, für Kunstgeschichtsstudis und alle unter 18 frei). Auch den Katalog kann ich empfehlen; die Bilder sind nicht ganz so toll, wie ich sie gerne hätte, aber die Texte fand ich sehr aufschlussreich und lesenswert. Den Audioguide kann man sich übrigens schon vor dem Besuch runterladen.