Über Dinge und ihre Bedeutung

„256

Morgens kommt der Pfleger und fragt, was ich trinken möchte. Was ich trinken möchte? Ich sage: Kaffee. Ich sage immer Kaffee, Wasser steht ja auf dem Nachttisch. Abends trinke ich Tee.

257

Ich muß nur liegen. Ich muß nur liegen und ab und zu behaupten, ich hätte meine Temperatur gemessen. Jeden Morgen erfinde ich eine Zahl, ich bin längst viel zu faul, mir das Fieberthermometer tatsächlich in die Achselhöhle zu klemmen. Und ich denke, eigentlich, eigentlich bin ich gern hier. Das Krankenhaus befreit von vielen Dingen, die sonst so ungeheuer wichtig scheinen.

Vielleicht bin ich schon zu lange hier.

258

Zwei oder drei Stunden starre ich die glasgraue Wasserflasche auf dem Nachttisch an. Ich mag ihre Silhouette, ich mag ihre Banderole aus Papier. Stolz sieht sie aus, die Flasche. Ich glaube, sie leuchtet.

Und ich merke, es ist gar nicht so schwer, die Dinge so lange anzuschauen, bis sie etwas ganz anderes bedeuten. Allerdings weiß ich nicht unbedingt, was.“

Wagner, David: Leben, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 271/272.

Über Rezeption

„,Schert sich die Masse nicht einen Dreck um Kunst, Dichtung, Stil? Sie braucht das alles gar nicht. Schafft ihr seichte Komödien, Abhandlungen über Gefängnisarbeit, über Arbeitersiedlungen und die augenblicklichen materiellen Interessen, meinetwegen. Es gibt diese permanente Verschwörung gegen das Authentische.‘
(G. Flaubert an (…) [Louise Colet], 20. Juni 1853)

,Aber eine Wahrheit scheint mir aus alledem doch hervorgegangen zu sein: daß wir nämlich keinerlei Bedarf an Gemeinem haben, am bloßen Zahlenelement von Mehrheiten, an Verabschiedung, an Ratifizierung; 1789 hat Königtum und Adel vernichtet, 1848 das Bürgertum, 1851 das Volk. Es gibt nichts mehr als einen pöbelhaften, schwachsinnigen Mob. Wir stecken alle gleich tief in derselben gemeinen Mittelmäßigkeit. Die soziale Gleichheit ist in geistige übergegangen. Man macht Bücher für Alle, Kunst für Alle, Wissenschaft für Alle, genau so, wie man Eisenbahnen baut und öffentliche Wärmehallen. Die Menschheit ist versessen darauf, moralisch zu sinken, und ich nehme es ihr übel, ihr anzugehören.‘
(An dies., 28.–29. September 1853.‘“

Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 22. Auflage, Frankfurt am Main 2012, Seite 355/356.