Hausarbeit „Datierungsprobleme in der Kunstgeschichte am Beispiel der Abtei Frauenchiemsee“

Hier ist meine zweite 1,0er-Hausarbeit, dieses Mal in Kunstgeschichte. Leider habe ich noch kein fundiertes Feedback vom Dozenten, das trage ich eventuell nach. Edit: Dozent: „Diese Arbeit hat mir große Freude gemacht und sie geht weit über das Erwartbare hinaus.“

Die niedlichen 15.000-Zeichen-Hausarbeiten tippe ich meist in drei, vier Tagen, lasse sie dann gegenlesen, korrigiere dran rum, lasse sie einen Tag liegen, korrigiere noch mal dran rum (jaja, ich weiß), und dann gebe ich sie ab. Bis jetzt habe ich nie länger als anderthalb Wochen Zeit für eine Hausarbeit gebraucht, auch weil meine Vorarbeit im Referat immer schon sehr gründlich war. Das war dieses Mal anders; an dieser Arbeit habe ich fast vier Wochen rumgeknabbert.

Schon das Referat hatte mich einiges an Schweiß gekostet, und die Hausarbeit war auch nicht ganz ohne, vor allem weil sie die erste mit 30.000 Zeichen war. Das kleine Viertsemester ist nämlich seit dem SoSe quasi im Hauptstudium und damit ein großes Viertsemester. Im Referat konnte ich zum Beispiel nicht auf die Malereien in der Kirche und der Torhalle eingehen, weil ich schlicht keine Redezeit mehr hatte; deswegen wollte ich das in der Hausarbeit episch ausbreiten. Dummerweise merkte ich schnell, dass ich wieder Probleme hatte, dieses Mal mit der Zeichenzahl. Denn während ich im Referat die simple Frage beantworten konnte: Ist die Abteil zweifelsfrei datiert – nö, wollte ich in der Hausarbeit schon etwas fundierter rangehen. Deswegen kam ich auf die Möglichkeiten, die wir als KunsthistorikerInnen haben, um Werke zu datieren: nach schriftlichen Quellen, stilkritisch (also durch Vergleiche mit anderen, datierten Werken), mit Hilfe der Naturwissenschaften und so weiter. Das hieß, ich musste alle diese Möglichkeiten belegen bzw. auf Frauenchiemsee beziehen, und damit war die Arbeit auf einmal lang genug. Ich glaube, meine Korrekturfee hat mir achthundertmal das Wort „leider“ aus der Arbeit und den Fußnoten gestrichen, weil ich mehrfach jammernd anmerkte, dass ich wieder keine Zeit für die Malereien vor allem in der Torhalle hatte, obwohl sie einzigartig und damit, verdammt noch mal, echt erwähnenswert sind.

Außerdem verfranzte ich mich erstmals komplett in der Sekundärliteratur. Ich fand immer noch ein Buch und noch einen Aufsatz, aus dem ich noch eine Erkenntnis ziehen konnte, die die Arbeit noch länger machte. Einen Vormittag lang habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, gleich auf 60.000 Zeichen und damit auf Bachelorarbeitslänge zu gehen, weil ich die locker vollgekriegt hätte. Dann hätte ich zwar eine, wie ich glaube, supertöfte BA-Arbeit, aber für diesen Kurs noch keine Hausarbeit gehabt, und das hatte dann doch Priorität. Trotzdem glaube ich, dass man der Arbeit an manchen Stellen anmerkt, dass hinter den Seiten eine kleine, dicke Frau sitzt, die hysterisch mit den Fingern schnippst und quengelt, dass sie noch viel mehr weiß.

Die Arbeit zu Grimald war die erste , bei der ich das Gefühl hatte, eine wissenschaftliche Erkenntnis erlangt zu haben, die so noch nicht in der Literatur vorgekommen ist. Diese Arbeit hingegen hat mir klargemacht, welchen Weg ich in der Kunstgeschichte gehen möchte. Ich will in der Architektur bleiben und mich vor allem im Bereich der digitalen Kunstgeschichte weiterbilden. Und wo ich es in den ersten Semestern sehr genossen habe, alle Kurse wild durch die Gegend zu belegen, ohne Rücksicht auf Epochen, Werke oder Herangehensweisen, fühlt es sich jetzt gerade sehr gut an, endlich zu wissen, wo mein voraussichtlicher Schwerpunkt in der Bachelorarbeit und im Masterstudium liegen wird.

Ich habe sehr viel Herzblut in diese Arbeit gesteckt und bin sehr froh darüber, dass sie die Note bekommen hat, die ich haben wollte. Frauenchiemsee, du alte Hippe. Wenn ich wieder bei dir bin, zünde ich der seligen Irmengard erstmal eine Kerze an.

München – Kirchensur – Gstadt – Fraueninsel – Herreninsel – Gstadt – München

Sandwiches geschmiert, Salate gemacht, erst im Auto daran gedacht: Wann sollen wir das bloß alles essen? Als ob wir in menschen- und restaurantleere Gegenden fahren. Egal. Kühltasche angestöpselt, losgefahren.

sandwiches

Auf dem Weg zum Chiemsee durch Kirchensur gefahren. Ich fiepste, weil ich die Kirche so schön fand in ihrer schmalen, hohen Schlichtheit, der ehemalige Mitbewohner hielt an, wir bemühten uns, die Autotüren nicht allzu lange offen zu lassen, damit aus den klimaanlageproduzierten 22 Grad keine 30 wurden, stapften zur Kirche – und fanden sie verschlossen. Immerhin konnten wir kurz ins Innere gucken, das uns alt und goldig entgegenglänzte, aber das hätte ich mir gerne aus der Nähe angeschaut.

kirchensur

In Gstadt fuhren wir in eine Parkhauseinfahrt, nur um festzustellen, dass das Parkhaus keines war, sondern nur eine abgesperrte Ecke von Gstadt, die jetzt anscheinend als Parkplatz dient. Wir fanden sogar noch ein Plätzchen im Schatten, bepackten unsere Rucksäcke bzw. Taschen mit Sandwiches, Wasser und Sonnencreme und gingen zum Bootsanleger, um uns in fünf Minuten zur Fraueninsel schippern zu lassen.

fraueninsel

Auf die Fraueninsel wollte ich, seit ich mein Referat über Teile des Klosters gehalten hatte. In den nächsten Tagen beginne ich die Hausarbeit zu diesem Thema und vorher wollte ich mir dann doch mal selbst anschauen, worüber ich da eigentlich schreibe. Auf der Autofahrt las ich dem ehemaligen Mitbewohner die kurzen Texte zur Insel aus zwei Reiseführern vor und quengelte diverse Male über Ungenauigkeiten, Fehler und Rumgemeine, freute mich aber über die Bezeichnung „knuffig“ für den Campanile. Ich ballerte den Herrn mit Jahreszahlen, Namen, Gegenständen und Malereien voll und wurde immer hibbeliger, bis wir endlich anlegten. Die Frage „Erst Kultur oder erst mal rumgucken“ wurde von mir dann auch mit ungläubigem Augenrollen quittiert, und ich sprintete schon in Richtung Torhalle, bevor der Mann überhaupt die Frage zuende formuliert hatte.

torhalle

Das Kloster auf der Fraueninsel ist recht gut erforscht, aber um die genaue Datierung einzelner Bauwerke bzw. Bauabschnitte streiten sich seit Jahrzehnten diverse Wissenschaftler; ich bin bei meinen Referatsvorbereitungen jedenfalls immer über die gleichen Namen gestolpert. Das Kloster wurde 782 geweiht; Stifter war Tassilo III. (741–nach 784), der letzte Herzog des bayerischen Geschlechts der Agilolfinger. Ihm wird bis heute als Stifter die Totenmemoria gehalten. Die erste heute noch bekannte Äbtissin ist die selige Irmengard (831/33–866), Tochter Ludwig des Deutschen (um 806–876) und Urenkelin Karls des Großen (747/48–814). Das Kloster war ein königliches Stift und stand adligen Mädchen und Frauen offen; sie mussten nicht in den Konvent eintreten bzw. ein Gelübde ablegen. Stattdessen war ihnen hier ein religiöses Leben in standesgemäßem Rahmen möglich, das Kloster diente der Erziehung und sorgte für das Gebetsgedenken (memoria) für verstorbene Familienmitglieder. Nach der Säkularisation 1803 wurde der Konvent aufgelöst, und der Besitz ging an den Staat über. Ludwig I. genehmigte 1836 die Wiederherstellung des Klosters, die Neueröffnung fand im März 1838 statt. In den Folgejahren war es neben der eigentlichen Klostertätigkeit unter anderem Mädchenpensionat und Schule, seit 1983 ist es ein Seminarhaus für Erwachsenenbildung.

Die Torhalle ist ein zweigeschossiges, rechteckiges Bauwerk nördlich der Hauptkirche. Im Erdgeschoss befinden sich drei Tonnengewölbe, die untereinander mit Bogenöffnungen verbunden sind sowie im Ostteil die kaum erforschte Nikolauskapelle. Im Obergeschoss liegt die Michaelskapelle, zu der ich gleich komme. Die Torhalle wurde vor den Grabungen von Vladimir Milojčić 1961–64 auf romanisch datiert; Milojčić fand allerdings zwischen Kirche und Torhalle Scherben und Fundamente und konstruierte eine Einheit von Klosterkirche, Torhalle und dazwischenliegenden Gebäuden (was durchaus diskussionswürdig ist, aber das erspare ich euch an dieser Stelle mal). Er datierte die Torhalle auf spätkarolingisch, also Ende 9. Jahrhundert. 1971 ließ er eine Radiokarbondatierung (C14-Datierung) eines Kantholzes von der Nordseite des Torbaus anfertigen, die das Holzstück auf um 880 plusminus 50 Jahre datierte. Diese frühe Datierung wurde von Großteilen der Wissenschaft angezweifelt, bis Hermann Dannheimer (ehemaliger Direktor der Prähistorischen Staatssammlung in München, Forschungsschwerpunkt seiner Veröffentlichungen ist die Archäologie des Mittelalters) in den 1980er Jahren weitere Grabungen durchführte. Er fand im ersten Bodenbelag der Torhalle einen Holzspan, der 2002 mit Radiocarbon-Messung auf 665–729 datiert wurde, was für ihn die frühe Datierung der Torhalle rechtfertigt. Vor allem Oswald Friedrich widersprach und wies auf die sehr geringe Größe der Insel hin: Baumaterial wurde so gut wie immer mehrfach verwendet, weil es zu aufwendig gewesen wäre, ständig neues heranzuschaffen. Der Holzspan könnte durchaus vorher schon mal verbaut worden sein, sein Vorkommen in der Torhalle sei rein zufällig.

tl;dr: Wir haben keine Ahnung, von wann genau die Torhalle ist.

Enter the Erzengel.

erzengel

Milojčić legte bei seiner Arbeit in den 1960er Jahren Fresken in der Michaelskapelle frei; sie zeigen Erzengel mit Stäben und der Erdscheibe. Ungewöhnlich ist an ihnen, dass sie nicht farbig ausgemalt sind, sondern offensichtlich nur als rote Umrisse gefertigt wurden, was wir aus der karolingischen Zeit nur als Vorzeichnung kennen, nicht aber als fertiges Kunstwerk. Außerdem erinnern sie eher an byzantinische denn an karolingische Bildwerke, ihre nächsten stilistischen Verwandten finden wir eher in ottonischer Zeit. Aber: Sie befinden sich auf der ersten Putzschicht der Torhalle, das heißt, auch sie könnten Auskunft über die Entstehung des Bauwerks geben – wenn wir denn mal wüssten, von wann sie sind. Hans Sedlmayr datierte die Engel trotz eingestandener mangelnder Vergleichsmöglichkeit auf um 860, die Große bayerische Kunstgeschichte von 1963 sinnierte locker was von „780–820“, Otto Demus sagte in Romanische Wandmalereien von 1968 „versuchweise erste Hälfte 11. Jahrhundert“, und Matthias Exner datierte sie 2003 auf „nicht vor dem ausgehenden 10. oder frühen 11. Jahrhundert“.

tl;dr: Wir haben immer noch keine Ahnung, von wann genau die Torhalle ist.

Mir war das in dem Moment egal, denn ich vertiefte mich in die Zeichnungen, bewunderte den klaren, bewussten Schwung der Gewänder, die kraftvolle Darstellung, die mir hier nach 1000 Jahren noch entgegenleuchtete und fand alles ganz großartig.

Nach der Torhalle marschierten wir auf meinen zweiten Liebling der Insel zu, dem Kirchenportal.

portal

Auch hier kabbelt sich die Wissenschaft noch, von wann genau denn welches Bauteil ist. Die Kirche selbst steht auf tassilonischen Grundmauern, aber von wann das Portal ist, ist noch ungeklärt. Gehörte es womöglich schon zum Gründungsbau? Dann wäre es das älteste Kirchenportal, das wir kennen. Der Streit geht übrigens nur um das Tympanon und das erste Portal; das Trichterportal ist später davorgesetzt worden, genau wie die gotischen Bögen in der Vorhalle, die das Portal netterweise etwas vor der Witterung schützt und aus den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts stammt.

Das Tympanon zeigt einen sehr vereinfachten Lebensbaum mit Fruchtdolden. Die räderartig wirkenden Gebilde kann ich mir nicht erklären, und ich habe auch in der Literatur keine Erläuterung gefunden. Für mich sieht es aus wie Hände, die durch Radspeichen greifen. Der Lebensbaum ist eine alte Darstellung, was für Dannheimer Beleg genug ist, um das Tympanon auf Ende des 8. Jahrhunderts zu datieren. Friedrich Oswald weist darauf hin, dass diese architektonische Gestaltung in der von Dannheimer vorgeschlagenen Zeit keinerlei Entsprechung in anderen Bauwerken habe; gestaltete Türstürze und Tympana treffen wir erst im Hildesheimer Dom von 872 (also 100 Jahre später) oder in St. Genis-des-Fontaines in den Pyrenäen, dessen Türsturz laut Inschrift auf 1019/1020 datiert ist.

Ich habe keine Ahnung, ich stand da nur und guckte uraltes Zeug an, während diverse Besucher achtlos an mir und dem Tympanon vorbeigingen, um sich die olle Barockkirche anzugucken. Da waren sie in guter Gesellschaft, denn so ging es auch meiner Begleitung.

tympanon

„Und wann kommt jetzt endlich das Ding, von dem du so schwärmst?“

„DU STEHST GENAU DAVOR EINSELF!“

„WAS, DIESER STEIN, AUF DEM MAN NIX ERKENNT?“

„…“

Mpf. Der Mann hat ja recht. Zuerst habe ich mich natürlich aufgeplustert und was von Kulturbanause gejammert, aber dann ist mir eingefallen, dass ich vor zwei Jahren noch genauso geredet habe. Die Gotik in ihrer schieren Mächtigkeit erschließt sich, glaube ich, auch jedem, der kein Proseminar über sie belegt hatte. Die Romanik hingegen mit ihrer schlichten, fast naiven Gestaltung ist eher so joah. Gut. Whatever. Zumindest war sie das. Jetzt nicht mehr. Inzwischen kann ich sie einordnen, weiß so ein bisschen was darüber, was vorher und nachher kam und bin seitdem absolut fasziniert von genau dieser einfachen Gestaltung.

Ich glaube, Dinge zu schmücken oder sie mit Bedeutung zu versehen, ist eine sehr menschliche Eigenart, siehe Höhlenmalerei, antiker Schmuck oder ägyptische Grabbeigaben. Nach dem Niedergang des römischen Reiches und dem christlichen Bilderverbot kam der Menschheit die Fähigkeit abhanden, realitätsgetreu oder idealisiert Dinge abzubilden, die sie bereits besaß, wie wir von diversen antiken Statuen und Triumphbögen wissen. Auf den romanischen Baustellen gab es aber durchaus Handwerker aus den Reichsgebieten, die wir heute als Griechenland oder Italien bezeichnen, und sie kannten Bauwerke wie die Akropolis oder das Kolosseum, sie wussten, dass die Menschheit schon mal Derartiges in die Landschaft gestellt hatte. Die Romanik ist der erste Versuch, sich dieser klassischen Schönheit wieder zu nähern. Man kann quasi der Menschheit in unseren Breitengeraden dabei zugucken, wie sie sich Fähigkeiten wiedererkämpft, die sie schon mal hatte. Mich rührt das ungemein, und deswegen stand ich recht lange vor diesem Stein, auf dem man nichts erkennt und den Engeln, deren Kopflosigkeit vom Begleiter scherzhaft bemängelt wurde.

chiemsee

Irgendwann schob mich der Begleiter weiter in Richtung Inselrundgang, wir kauften im Klosterladen Schnaps (was sonst), aßen ein paar Sandwiches mit Blick aufs Wasser, ich stapfte kurz in den See und ärgerte mich, keinen Badeanzug mitgebracht zu haben, und dann schipperten wir aus der TOTAL SCHÖNEN Romanik in den VÖLLIG ÜBERZOGENEN Barock.

herrenchiemsee

Auf Herrenchiemsee darf man nicht einfach so ins Schloss, sondern muss sich eine Karte kaufen, die einen zu einer ganz bestimmten Uhrzeit in eine Gruppe steckt, die dann durch zehn (?) Räume des Schlosses geführt wird. Die Führung war gut, aber für mich mit ihren 30 Minuten natürlich viel zu kurz. Ich wäre gerne länger in jedem Raum geblieben, vor allem in dem mit dem Kronleuchter aus Porzellan, der mir wider Erwarten doch sehr gefallen hat, aber das ging leider nicht. Fotografieren und Filmen ging übrigens auch nicht. Dem Begleiter gefiel das Schloss deutlich besser als die Kirche, während ich mich nach der Schlichtheit der Fraueninsel zurücksehnte. Trotzdem ist Herrenchiemsee natürlich einen Besuch wert – alleine wegen der 5.000 Kerzen in den weißnichtmehrwievielen Kronleuchtern –, aber ich habe mich sehr zugekleistert gefühlt. Barock halt. Bzw. Barockimitation.

Eigentlich wollten wir auf der Rückfahrt irgendwo einkehren und fürstlich tafeln, aber uneigentlich waren wir verschwitzt und müde und hatten noch einen Berg an Salat in der Kühlbox. Daher endete der lange Tag in einem unserer Lieblingsbiergärten in München.

biergarten

Ich habe Sonnenbrand auf den Füßen und im Nacken und den ganzen Sonntag über war ich viel zu müde, aber das war’s wert. Chiemsee rockt. Und Frauenchiemsee rules. Ich komme wieder. Mit Badeanzug und einer hoffentlich großartig benoteten Hausarbeit.

Warum hier länger nichts los war

Mich hatte ein Referat im Griff.

In meinem Kunstgeschichtskurs über bayerische Klöster seit den Karolingern wurden nicht wie sonst in der ersten Semesterwoche die Referate verteilt, sondern erst in der zweiten Sitzung. Und da Frau Naseweis ja unbedingt das Mittelalter wollte, wurde ihr Referatwunsch entsprechend quittiert: „Gut, dann sind Sie in zwei Wochen die erste.“ Ächz.

Zwei Wochen hört sich nach viel Zeit an (jedenfalls war halb Twitter dieser Meinung), aber ich habe in den letzten Semestern festgestellt, dass ich mit mindestens drei Wochen am besten arbeite. In der ersten Woche lese ich kreuz und quer alles, was mir unter die Finger kommt, am liebsten Aufsätze, denn die sind kürzer als Bücher und schon sehr speziell, was es mir erleichtert, eine ebenso spezielle Fragestellung zu entwickeln, mit der ich mich im Referat beschäftigen möchte. Außerdem dient die erste Woche dazu, in der Unibibliothek und der Stabi alles zu bestellen, was ich klicken kann und dann drei bis fünf Tage darauf zu warten, dass die Bücher in meinem Abholfach liegen.

In der zweiten Woche, in der ich so gut wie alles Material habe, das ich brauche, lese ich gründlicher bzw. suche gezielter nach Antworten auf die Frage, die ich hoffentlich inzwischen formuliert habe. Meist finde ich in Fußnoten noch weitere Literatur, in die ich mal reingucken will, und da ich ja noch über eine Woche Zeit bis zum Referat habe, klappt das meistens auch.

In der dritten Woche steht mein Referat schon ziemlich. Ich halte es mir selbst einmal, wobei ich grundsätzlich merke, was geht und was nicht: Wo muss ich Inhalte vorziehen oder zurückstellen, damit mir meine ZuhörerInnen folgen können, wo brauche ich ein Bild, wo nicht und was muss ich kürzen, damit ich nicht länger als die geforderten 20 Minuten werde. Ich musste bis jetzt immer kürzen: Wo ich am ersten Tag denke, keine Ahnung, wie ich jemals die Zeit rumkriegen soll, habe ich schon nach wenigen Tagen meist genug, um eine Stunde zu reden.

Wenn das Referat steht, bastele ich die Präsentation dazu. In Kunstgeschichte wollen wir immer Bilder sehen, in Geschichte war das bisher noch nicht nötig, aber das ändert sich vermutlich nächste Woche, denn da steht lustigerweise schon das nächste Referat an, weswegen es hier wahrscheinlich nach diesem Eintrag wieder ruhiger wird. Nach der Präsentation kommt noch das Handout für die KommilitonInnen, das quasi aus meinem Referat besteht, das ich auf Stichpunkte runterkürze und mit einer kleinen Literaturliste versehe.

Was ich an drei Wochen Zeit auch schätze, ist die Möglichkeit, zwischendurch einen Tag alles liegenlassen zu können. Ich mag es sehr gerne, den Kopf alleine weiterarbeiten zu lassen, während ich mich um andere Dinge kümmere, um dann nach einem Tag Pause frisch auf alles draufzugucken. Die drei Wochen geben mir auch einen kleinen Puffer, falls einer der hirntoten Tage kommt, an denen nichts geht. Das kenne ich schon von der Arbeit: Es gibt einfach Tage, an denen weißt du, dass du jeden Satz, den du jetzt gerade schreibst, morgen wieder löschst, weil er fürchterlich ist. Das beunruhigt mich nicht mehr so wie früher, weil ich weiß, dass das nur eine Phase ist. Diese Ruhe habe ich an der Uni aber noch nicht, weil ich mich da um lauter Themen kümmere, um die ich mich vorher noch nie gekümmert habe. In der Werbung, gerade wenn es um Autokataloge geht, weiß ich, was auf mich zukommt. In meinen Referaten weiß ich das nicht, da finde ich dauernd neue Fakten und Daten und lustige Einzelheiten, die ich gestern noch nicht wusste und die manchmal meine schöne These ruinieren, weswegen ich noch mal neu rangehen muss. Und dann ist es praktisch, wenn man drei Wochen Zeit hat.

Zu guter Letzt bietet mir diese Zeit auch die Möglichkeit, über den Tellerrand wegzugucken: Ich befasse mich nicht nur mit meinem speziellen Thema, sondern schaue mir auch das Umfeld an. Bei Hans Memling also: Was hat er von seinem (vermuteten) Lehrmeister Rogier van der Weyden mitgekriegt und wie malten die Italiener zu seiner Zeit? Bei Archipenko: Wie sah die Kunstszene in Paris und Berlin in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aus, was machten Picasso, Brancusi und Gris gerade? Und bei den German Sales: Wie sehen andere Datenbanken aus, was Inhalte und Funktionalität angeht? Ich sitze dann vorne nicht wie ein Fachidiot, sondern kann einschätzen, wo sich mein Thema einordnet.

Das ging dieses Mal alles nicht. Zusätzlich lag der 1. Mai in meiner Vorbereitungszeit, an dem alle Bibliotheken geschlossen haben, und von den wichtigen Büchern konnte ich mir gerade eins ausleihen, alle anderen standen im Historicum oder meiner geliebten KuGi-Bib, was mir aber am Feiertag so gar nichts brachte. Netterweise war ausgerechnet der 1. Mai der Tag, an dem mein Kopf überhaupt keine Lust hatte, weswegen das nicht weiter schlimm war. Trotzdem war es wieder ein Tag weniger, und ich war eh schon nervös genug, denn übermäßig viel Literatur hatte ich nicht gefunden, vor allem kaum wirklich neue, was der Dozent explizit gefordert hatte: „Nichts, was älter ist als zehn Jahre.“

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(Grundrissrekonstruktion der ersten Klosterkirche. Quelle: Dannheimer, Hermann: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee, München 2005, S. 40.)

Mein Thema war das Kloster Frauenwörth auf Frauenchiemsee. Die Ansage: „Was wissen wir eigentlich über Torhalle und Kirche?“ Ich suchte im OPAC also brav nach dem Kloster, fand eine Aufsatzsammlung von 2003 und entschied, die geht gerade noch, sowie einen Ausgrabungsbericht von 2005. Der brachte mich zu einem Grabungsbericht von 1966, und zusätzlich fand ich Rezensionen zu diesen Berichten, die die wissenschaftliche Diskussion der letzten 50 Jahre in Ansätzen nachzeichneten. Die Berichte befassten sich aber nicht nur mit Torhalle und Kirche, sondern auch mit den Klostergebäuden, dem Campanile, dem Friedhof und einzelnen Details wie den Bildprogrammen in der Kirche, einer Kapelle in der Torhalle und dem Kirchenportal mit seinem Tympanon und dem Türzieher. Ich hatte also einen Berg an Zeug und fand blöderweise immer mehr Zeug, denn die eben angesprochenen wissenschaftlichen Diskussionen wollte ich gerne selbst nachvollziehen. Das heißt, ich verließ mich nicht auf einen Halbsatz in einer Rezension, sondern suchte die Originalquelle. Deswegen verfranste ich mich langsam in der Stofffülle – was genau an der Torhalle und der Kirche wollte ich eigentlich besprechen? Die Architektur? Die Ausgrabungen? Die Bildprogramme?

Am Wochenende vor dem Referat war ich kurz davor, das Ding abzusagen, weil ich immer noch keinen roten Faden hatte, immer noch keine wirkliche Frage, aber dafür immer mehr Daten, Fakten und Namen, die sich in meinem Kopf gefühlt zu nasser Watte knüllten, ohne eine Chance für mich, irgendetwas fassen zu können. Ich erzählte mir meine Stoffsammlung selber, um so ein Ziel zu finden, fand es zwar nicht, merkte aber, dass ich mal wieder viel zu viel hatte und brach nach 35 Minuten Reden ab. Die Bildprogramme flogen raus, aber mehr wusste ich nicht. Erst beim Einschlafen kam der rettende Gedanke, der mir heute so logisch erscheint, dass ich mich frage, wieso ich nicht früher draufgekommen bin: Ich vergleiche die beiden Grabungsergebnisse und ihre Rezensionen und erzähle ganz simpel nach, einmal für die Kirche, einmal für die Torhalle, welcher Wissenschaftler wann was gesagt hat und wie er es begründet. Also: Wissenschaftler A findet ein altes Fundament unter der bisher als ältesten Kirche angenommenen, datiert es auf dann und dann und glaubt, es könnte eine Saalkirche gewesen sein. Wissenschaftler B glaubt, es könnte eine dreischiffige Basilika gewesen sein und begründet das so. Wissenschaftler C sagt, alles Quatsch, Jungs, Saalkirche it is und zwar deswegen. Genauso mit der Torhalle: „Der Putz ist von dann und dann.“ „Ja, aber der Holzfußboden ist älter.“ „Schnickschnack, Fußboden, ich hab hier einen Holzspan im nachweisbar ältesten Kalkmörtelestrich und der ist noch älter, ätsch!“

Damit konnte ich endlich mal wieder beruhigt schlafen, kürzte am Dienstag meinen Textwust auf eine anständige Menge runter und bereitete gleichzeitig die Präsentation vor. Im Laufe meiner Stoffsammlung hatte ich mir immer brav aufgeschrieben, wo welcher Grundriss und wo welches Diagramm zu finden war, um es schnell einscannen zu können. Das hatte ich Montag schon gemacht – viel zu viel gescannt, aber egal, das hatte ich jetzt Dienstag alles griffbereit und konnte es gemütlich in Keynote ziehen. Dienstag abend nahm ich mir frei, um am Mittwoch, nach der üblichen Nacht-zum-drüber-Schlafen, aus dem Referat das Handout zu erstellen. Dafür brauchte ich bis 22 Uhr – ich hatte ja auch noch Uni und Hausaufgaben –, hielt mir dann quasi zum ersten und einzigen Mal das Referat mit der Präsentation zusammen und ging gefühlt so unvorbereitet wie nie ins Bettchen.

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(Portal mit Tympanon der Klosterkirche Frauenwörth. Quelle: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 69.)

Am Donnerstag saß ich ab acht in der Uni, konnte da also auch nicht mehr machen als in jeder Pause zwischen den Seminaren noch mal meine Notizen zu überfliegen, wenn ich nicht gerade mit Gebäude- bzw. Raumwechsel oder Jogurt essen beschäftigt war. Um 14 Uhr war ich dann dran – dachte ich jedenfalls. Aber eine Kommilitonin begann vor mir: Ihr Thema war St. Emmeram in Regensburg, das weitaus wichtigere Kloster als mein kleines, schnuffiges Frauenwörth, an das ich ein bisschen mein Herz verloren habe. Sie begann, ohne ein Handout auszuteilen, was mich etwas wunderte, aber ich wollte auch nicht danach fragen. Das hatte ich auch schon öfter gesehen: Referentinnen, die so nervös waren, dass ihnen erst nach ihrem Referat einfiel, dass sie ja noch ein Zettelchen für uns hatten. Also sagte ich nichts, sondern hörte ihr zu, wenn auch etwas angestrengt, weil ich keinen roten Faden fand. Der Dozent anscheinend auch nicht, denn nach fünf Minuten stellte er die Killerfrage: „Geht das so weiter?“ Der Kurs zuckte wahrscheinlich ähnlich fies innerlich zusammen wie ich, keine Ahnung, wir saßen nur lämmergleich da und guckten starr nach vorne, wo die Referentin sich ihr eigenes Grab schaufelte, indem sie auf die Frage, welche Literatur sie denn benutzt habe, antwortete: „Ich hab ein paar Kirchenführer gelesen.“

Daraufhin wurde die Atmosphäre noch mal ungemütlicher, ich verabschiedete mich innerlich von einer guten Note, ging aber nach einer etwas lauteren Ansprache des Dozenten an den Kurs nach vorne und begann, mein Macbook mit dem Beamer zu verbinden, was meist nie auf Anhieb klappt. Währenddessen fragte eine Kommilitonin, wie sich der Dozent denn ein gutes Referat vorstellte; die Antwort habe ich nicht mitgekriegt, ich befand mich in den Systemeinstellungen und betete, dass die Beamergötter mich heute bitte liebhaben mögen, was sie taten: Alles ging, ich teilte mein Handout aus und hielt mein Referat, von dem ich bis eine Sekunde nach dem „Danke für eure Aufmerksamkeit“ nicht wusste, ob es totaler Quatsch war. War es anscheinend nicht, denn nachdem ich fertig war, drehte sich der Dozent zu der Kommilitonin von vorhin um und meinte: „Um Ihre Frage noch mal zu beantworten: So stelle ich mir ein gutes Referat vor.“

Ich war äußerlich natürlich professionell unbeeindruckt, aber eigentlich war ich Beckerfaust und innerer Reichsparteitag.

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Gelernt: Ich kann anscheinend in zwei Wochen ein ziemlich gutes Referat hinkriegen. Dafür komme ich aber nicht mehr zum Bloggen, zu Museumsbesuchen oder zum entspannten Biergartensitzen. Daher bleibe ich lieber bei meinem Drei-Wochen-Rhythmus. Dann bin ich auch weitaus ausgeglichener und muss vor allem keine Jobs für Geld absagen, was ich letzte Woche in meiner Unizeit das erste Mal getan habe, weil ich meinem Kopf und meinem Zeitplan schlicht kein Platz mehr war.

Und jetzt stürze ich mich wieder ins nächste Referat, dieses Mal über die Gartenlaube. Ich freue mich schon sehr auf das Buch über die Mund- und Kieferheilkunde in dieser Publikation.