Kunst gucken: Hamburger Kunsthalle (Klassische Moderne)

Der erste Besuch in der Kunsthalle führte mich ins 19. Jahrhundert, der nächste ins Mittelalter bzw. die frühe Neuzeit, und Dienstag war endlich mal die klassische Moderne dran. Der Link zum 19. Jahrhundert vom März 2012 ist mir schon fast peinlich in seiner Unkenntnis, aber ich mag den Satz „Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.“ Ha!

Die letzten beiden Male habe ich gar nicht um Ermäßigung beim Eintritt gebettelt, denn die Website behauptet, ich kriege eh keine, aber dieses Mal dachte ich, da stelle mer uns janz dumm und fragen. Ich geriet an eine Dame an der Kasse, die eine weitere Dame fragte, in einem Berg Papiere blätterte, „Wie war das mit Leuten über 27, die Kunstgeschichte studieren, aber nicht in Hamburg?“ und die mir schließlich einfach eine ermäßigte Karte für 6 Euro anstatt für 12 verkaufte. Dankeschön. (Ich. Will. UMSONST. Ins. Museum!)

Das Putzige an der Kunsthalle: Man kommt nicht direkt zur klassischen Moderne, sondern muss dafür durch die Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Ist also quasi wie bei Ikea, wo man auch nicht direkt zu den Köttbullar kommt, sondern erst durch die Möbel muss.) Den Umweg nehme ich aber gerne, denn dort hängen die Drei Frauen in der Kirche von Wilhelm Leibl. Immer noch mein Lieblingsbild. Ihr müsst euch das bitte mal vor Ort angucken; keine Abbildung und schon gar nicht mein iPhone-Foto können die Feinheit wiedergeben, mit der das Bild gestaltet wurde.


Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche (1881)

Nach einem Jahr Studium ist das 19. Jahrhundert nicht mehr ganz so reizvoll für mich wie vorher, aber es steht immer noch ziemlich weit oben auf der Liste – wobei ich in jeder Vorlesung und in jedem Seminar meine Vorlieben neu justiere. Nach dem ersten Semester fand ich auf einmal die Romanik toll, die mir vorher völlig verschlossen war, und die Gotik hatte sich einen Platz im Kopf erobert; den im Herzen hatte sie schon. Im zweiten Semester vertiefte ich meine Faszination mit der christlichen Ikonografie der Niederländer im 15. Jahrhundert, auf die ich durch mein Memling-Referat im ersten Semester aufmerksam gemacht wurde. Außerdem bekam ich im absoluten Schnelldurchlauf Kunst von 1500 bis 2000 präsentiert, und ich beschäftigte mich erstmals ernsthaft mit Skulpturen, mit denen ich vorher auch eher nur gefühlt was anfangen konnte, aber nie wusste, was ich eigentlich mag und warum.

Im Skulpturen-Seminar besprachen wir auch Bildwerke, die mit der Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert was zu tun hatten; wir hörten allein vier Referate zu Picasso, unter anderem eins zu den Demoiselles d’Avignon von 1907 (das Bild gilt als der Urknall der Moderne, könnt ihr euch für Partysmalltalk mal merken) und ein weiteres zu seinen Absinthgläsern, an denen toll ist, dass sie von Picasso erstellte Plastik und bereits vorhandenes Material kombinieren (den Löffel), was aus der Plastik eine erste Assemblage macht (auch das ein hervorragender Smalltalkbegriff). Kurz gesagt: Ich fühlte mich etwas besser gewappnet für die Neuzeit als bei den letzten Besuchen und begann mit dem Raum, der mein neuer Lieblingsplatz in Hamburg ist: ein Raum mit Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck und Bildern von Paula Modersohn-Becker.

Lehmbrucks Gestürzter war für mich der Höhepunkt der El-Greco-Ausstellung in Düsseldorf, die ich sonst eher so meh fand, und während der Beschäftigung mit Alexander Archipenko bin ich ihm immer wieder begegnet. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, ihn in Hamburg wiederzusehen.


Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918)

Dieser eigentümlichen Stimmung, in die mich Lehmbrucks Skulpturen in ihrer Fragilität und Einsamkeit versetzen, kann ich mich nie entziehen, und ich finde die Zusammenstellung mit den Bildern von Modersohn-Becker sehr passend. Sie zeigen ausnahmslos Menschen, so dass der ganze Raum die Möglichkeit bietet, mit verschiedenen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten, die für mich aber alle irgendwie zusammengehörten. Wundervoll. Und melancholisch. Melancholisch-wundervoll.

An dem Bild Alte Moorbäuerin fand ich folgende Information: „Erworben 1920. Beschlagnahmung durch die Kommission für „entartete“ Kunst 1937. Erneut erworben 1951“. Wenn ich richtig geguckt habe, war das das einzige Bild, an dem der Hinweis auf die „entartete“ Kunst stand; umso wichtiger finde ich ihn.

Im nächsten Raum versank ich in drei Bildern von Munch, unter anderem in der Madonna, und entdeckte den mir vorher unbekannten Georg Minne. Bei Munch habe ich gemerkt, dass ich inzwischen anders gucke als vor einem Jahr. Ich lasse zwar immer noch zunächst im Raum den Blick schweifen und konzentriere mich dann auf die Bilder, die mich spontan faszinieren, aber bei denen versuche ich sofort zu ergründen, was sie aus kunsthistorischer Sicht auszeichnet. Ich überlege nicht mehr, was mir an ihnen gefällt – die Farben, die Komposition, das Motiv –, sondern ich rufe meine bisher im Kopf gesammelten Bilder ab und ordne das vor mir hängende Werk ein. Oder versuche es zumindest, was nach zwei Semestern natürlich noch eher ein Rumstochern im Nebel ist, aber der wird mit jedem Buch, jedem Bild und jedem Kurs lichter. So erstaunte mich bei der Madonna die rote Gloriole und das schwarze Haar; mir fiel bei Minnes Drei Heiligen Frauen (ich hoffe, ich habe mir den Titel richtig gemerkt) auf, dass sie keine Gesichter haben, was ihnen ihre Menschlichkeit raubt, und ich überlegte bei einem Winterbild Munchs, welche Farbschicht wohl zuerst kam und ob das Absicht war, seine Signatur per Weiß einzuschneien.

Im nächsten Raum warteten Picasso, Brancusi und Gris auf mich, und hier hatte ich ständig die oben erwähnten Demoiselles sowie Picassos Gitarrenbilder im Hinterkopf: Sehe ich Entwicklungen oder Abstufungen in der Abstraktion? Ich fühlte mich in jeder Minute um so viel reicher als noch vor einem Jahr, weil ich mich den Werken anders nähern konnte – aber trotzdem meine übliche emotionale Rangehensweise noch nicht von Fakten verschüttet wurde.


Constantin Brancusi, Der Kuss (1907/08)

Der nächste große Raum war mein zweitliebster auf dem Rundgang: Hier versammelten sich unter anderem Feininger, Belling, Schlemmer, von Jawlensky und Klee. Ich twitterte schon den Satz, der mir erstmals beim Rundgang durchs Lenbachhaus in München bei meiner immer noch nicht verbloggten Privatführung rausrutschte: „Ach, das hängt HIER?“ Damals ging es um das Porträt von Alexander Sacharoff von Alexis von Jawlensky, das ich sehr mag und von dem ich wirklich keine Ahnung hatte, dass es sich in meiner Nachbarschaft befindet. In Hamburg ging es mir bei Bellings Skulptur 23 so; auch hier der Querverweis zum Lenbachhaus: Dort steht nämlich der Dreiklang, über den wir im Skulpturenseminar sprachen. In meinem Kopf klickt es seit einem Jahr dauernd.


Rudolf Belling, Skulptur 23 (1923)

Was mich in diesem Raum so fasziniert hat: Ich mag auf einmal Feiniger. Den fand ich bisher immer so ja ach okay, aber dieses Mal erwischte er mich total. Ich ahne, dass es was mit der Beschäftigung mit Architektur zu tun hat, denn auf einmal konnte ich sein Liniengewirr nachvollziehen, sah Strukturen statt Dekoration und war begeistert davon, wie er einen Domchor auf Grundformen runterbrechen konnte.

Bei Klee bin ich stets überfordert, aber bei Klee ist mir das egal. Den mag ich einfach. Alles von ihm. In Hamburg hängen unter anderem (?) der Goldfisch (oh so pretty) und die Revolution des Viadukts. Vor dem Bild stand ich gerade, als hinter mir eine Schulklasse sich vor Franz Marcs Affenfries aufbaute und rumquatschte. War mir aber egal, ich starrte auf dekonstruierte Viadukte und war glücklich.

Dann erlahmten meine Augen aber auch schon so langsam. Ich nahm noch alle Kirchners mit – auch auf ihn bin ich erst im Skulpturenkurs aufmerksam geworden –, ignorierte Nolde aber schon so ziemlich; der kam mir auf einmal viel zu kleinteilig-nervig vor, nachdem Kirchner doch so schön flächig malte. Der vorletzte Raum gehört Max Beckmann, und hier konnte man wunderbar die Entwicklung nachvollziehen. Man beginnt Anfang des Jahrhunderts, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, bestaunt ein hellfarbiges Selbstporträt, ahnt seinen Lebenslauf und den des Jahrhunderts anhand der sich ändernden Bilder und Skulpturen und endet bei dunklen, zerfahrenen Bildern, die kurz vor seinem Tod entstanden.

In den letzten Kabinetten entdeckte ich dann noch zwei Frauen, von denen ich noch nie gehört hatte. (Vielleicht sollte ich doch das blöde Blockseminar im nächsten Semester belegen, das sich nur mit Künstlerinnen beschäftigt. Ich hasse Blockseminare.) Die Damen heißen Anita Rée und Elfriede Lohse-Wächtler, und gerade den Wikipediaeintrag zur letzteren sollte man sich nicht gönnen, wenn man sowieso schon schlecht gelaunt ist. Eine kleine Lesebitte. Kann nicht schaden. Und geht mal wieder ins Museum. Kann auch nicht schaden.

Über Lehmbruck

Wilhelm Lehmbruck, Gestürzter (1915), Stiftung Wilhem Lehmbruck Duisburg, Foto: Bernd Kirtz

„Der Rhythmus ist es also, der als Prinzip höchsten überpersönlichen Seins die Gestalten Lehmbrucks von der Last individueller Existenz erlöste. (…) Wie der Mensch im gotischen Dome unwiderruflich sein Ich verlieren muss, um aufgenommen in einen unaufhaltsamen Vertikalismus seine Seele in schrankenlose Weiten zu heben, so verlässt der Lehmbrucksche Mensch diese Welt harter Gegensätze (…), um allein im Rhythmus als dem stärksten kosmischen Prinzip ein Dasein reiner Geistigkeit zu führen.“

Kuhn, Alfred, Die neuere Plastik, München 1922, zitiert bei: Melcher, Ralph (Hrsg.), Alexander Archipenko, München 2008, S. 12.

Alexander Archipenko, Liegende Figur (1957), Privatsammlung (Sydney).