Über die „Mona Lisa“

„Die Landschaft selbst, die weit hinauf, bis über die Augenhöhe des Modells reicht, ist von merkwürdiger Art: phantastisch-zackige Berglabyrinthe, dazwischen Seen und Ströme. Was aber das sonderbarste ist: sie wirkt in ihrer unbestimmten Ausführung wie ein Traum. Sie hat einen andern Grad von Realität als die Figur, und das ist keine Laune, sondern ein Mittel, den Eindruck des Körperhaften zu gewinnen. Lionardo verwertet hier theoretische Einsichten über die Erscheinung ferner Gegenstände, worüber er sich auch im Traktat ausgelassen hat [1]. Der Erfolg ist der, daß im Salon Carré des Louvre, wo die Mona Lisa hing, alles andere neben ihr flach erschien, selbst Bilder des 17. Jahrhunderts. Die Farbenstufen der Landschaft sind: braun, grünblau und blaugrün, worauf sich der blaue Himmel anschließt. Genau dieselbe Folge, wie sie Perugino hat in dem ebenfalls dem Louvre gehörenden Bildchen mit Apollo und Marsyas.

Lionardo nannte die Modellierung die Seele der Malerei. Wenn irgendwo, so kann man vor der Mona Lisa die Bedeutung des Wortes ahnen lernen. Die delikaten Hebungen und Senkungen der Oberfläche werden zum Erlebnis, als ob man selbst mit Geisterhand darüber hinglitte. Die Absicht geht noch nicht auf das Einfache, sondern auf das Viele. Wer länger mit dem Bilde verkehrt hat, wird die Erfahrung bestätigen, daß es die nahe Betrachtung verlangt. Auf die Ferne verliert es bald seine eigentliche Wirkung. (Das gilt noch mehr von Photographien, die sich darum nicht zum Wandschmuck eignen.) Es unterscheidet sich darin prinzipiell von den späteren Bildnissen des Cinquecento, und in gewissem Sinne haben wir hier in der Tat den Abschluß einer Richtung, die ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert hat, die Vollendung des ‘feinen’ Stils, dem die Plastiker vor allem ihre Bemühungen widmeten. Die jung-florentinische Schule ist nicht darauf eingegangen, einzig in der Lombardei wurden die zarten Fäden weitergesponnen [2].

[1] Buch von der Malerei, No. 128 (201).
[2] Daß die „belle ferronnière“ (Louvre) nicht in das Werk Lionardos hineinpaßt, ist schon mehrfach empfunden worden. Das schöne Bild ist neuerdings versuchsweise dem Boltraffio zugeschrieben worden, was allerdings wenig Überzeugendes hat.“

Wölfflin, Heinrich: Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance, 9. Auflage, Basel 1968, S. 50/51.

Über Kathedralen

„Wie durchgreifend der Wandel von romanischer zu gotischer Skulptur ist, zeigen die gattungsgeschichtlichen Veränderungen. Ist die ältere Bildhauerei im Prinzip Relief und damit flächenmäßig der Architektur verhaftet, so tritt mit der Gotik als Neuerung die Rundfigur, die Statue, auf. (…)

Das Auftreten der Statue in der Gotik schafft aber auch ein ganz neues Verhältnis zum Betrachter. Seit der griechisch-römischen Antike ist Statue eine Form des Bildwerks, das dem Betrachter Einfühlung, Mitfühlen, Mitleben erlaubt, sie verbürgt lebendige Gegenwart, sie antwortet. Nach der Konfrontation des romanischen Reliefs führt die gotische Statue erstmalig in das europäische Bilden einen Anthropomorphismus ein, eine Menschlichkeit, deren Auslotung für Jahrhunderte das zentrale Anliegen der bildnerischen Imagination wurde. (…)

Das Ausmaß des historischen Wandels vom romanischen zum gotischen Bildwerk wird erst im erweitertem historischen Kontext sichtbar. Die Kathedrale, die neue Heimstatt der monumentalen Skulptur, ist die Amtskirche des Bischofs. Die Bilder der Kathedrale wenden sich nicht an Mönche, auch nicht an durchreisende Pilger, sie wenden sich an das Laienvolk schlechthin. Noch wichtiger als der Übergang der Auftraggeberschaft von Kloster zu Bischof ist die neue Organisation der Werkenden als Bauhütte, die die Bildwerke nicht nur materiell ausführt, sondern im weiteren Verlauf auch die eigentliche Verfügung über sie bekommt. Der menschliche Zug der Gotik ist geschichtlich gesehen das in der westlichen Kirche zu Bedeutung gelangende Laientum – anfänglich in der Form des christlich-adeligen Ritters, dann des Höflings und schließlich des Bürgers. (…) die romanische Skulptur ist als Ganzes das großartige Schlussbild des ersten europäischen Jahrtausends. Auf dieser Höhe des Monumentalen setzt das neue Äon ein, das nicht mehr unter dem Zeichen des Gottes und des Dämons, sondern unter dem des Menschen selbst stehen wird.“

Rupprecht, Bernhard: Romanische Skulptur in Frankreich, München 1975.

Über Kathedralen

„Im gotischen Dom ist ein Weltalter versteinert. Die ewigen Formen leben unter uns. Die ewigen Räume sind uns aufgetan. Noch tönt uns die Raum-Musik; noch glüht die Farbenmystik der Glas-Fenster; noch redet uns Goldgrund-Bild und Stein-Gestalt. Aber hinter diesen Räumen, Bildern und Gestalten ruht eine Welt der Dichtung und des Gedankens, die uns verborgen ist: die heiligen Sagen des Mittelalters sind verklungen, die heiligen Bücher sind verschlossen; Worte dringen nicht mehr an unser Ohr. Was in Steinen gedacht ist, steht fest und dauert, zu zeitloser Kunstgestalt erhöht. Was aber in Worten gedacht und gedichtet ist, das wird ins Schicksal der Begriffe mit hineingezogen; der Verstand anderer Zeiten fragt nach dem Falsch und Richtig; Sinn-Bilder des Geistes werden als Erkenntnis-Irrtum für Fabel und Aberglaube erklärt, verworfen, – vergessen.

Was wissen wir von dem Geist des Mittelalters? Ist er in den Bekenntnis-Streitigkeiten der Bischöfe und Äbte? Ist er im Haß der Kaiser und Päpse? Wird er erkannt im historischen Geschehen? Die Taten einer Zeit spiegeln den Geist nicht, sie sind aus irdischer Not geboren. In den Werken lebt der Geist wohl – er enthüllt sich aber dem nicht, der nur von ihnen weiß, der nur die Ergebnisse des Denkens und Betrachtens kennt, die Fortschritte und Errungenschaften oder Irrtümer, aus denen in unsern Lehrbüchern das Bild eines vergangenen Zeitalters zusammengestückt wird.

Darum führt kein heutiges Lehrbuch mit noch so viel Daten und Schilderungen uns in den Geist des Mittelalters; sondern nur ein Buch jeder Zeit selbst, das wir lesen. Denn hier ist dieselbe Kraft am Werke, die die Dome gewölbt hat: im Zusammentragen unzähliger Materie, in der Freude am riesenhaften Aufbau, im Überspannen der Räume, in der Fähigkeit zum Bändigen, Abschließen, Krönen. Und bei allem Erkenntnisumfang ist diese Weltansicht kein Wissen gewesen, das etwa nur der Besitz einer abgesonderten gebildeten Kaste gewesen wäre: sie war Leben, täglich gegenwärtiges Leben; sie ward Gestalt für jeden Tag des Jahres; sie prägte sich jedem ein in dauernder Wiederkehr: durch die Feste und liturgischen Feiern des Kirchenjahrs. Das ist der Sinn des Heiligenkalenders gewesen: nicht nur das Gedächtnis einiger Märtyrer und Bekenner zu begehen; sondern die Seele des Menschen ewig in Berührung zu halten mit dem großen Heilsgeschehen, das sich von der Schöpfung an bis zum jüngsten Gericht symbolisch in dem Reich Gottes und des Teufels abgespielt hat und abspielen wird. Dazu gehört nicht nur die heilige Legende, sodnern auch die weltliche Sage; nicht nur die Lehre der Kirchenväter, sondern auch die Zauberei und verbotene Kunst der heidnischen Meister – Überlieferung aus allen Weltaltern: aber immer auf den einzelnen Menschen bezogen, immer aufs Heil seiner Seele gewendet.

Ein Buch, das diese ewige Vergegenwärtigung alles geistig und leiblich Vergangenen im kultischen und liturgischen Leben des Mittelalters darstellte, müßte uns wahrhaft in den Geist des Mittelalters führen. Ein solches Buch hat es gegeben: es ist die Legenda aurea des Jacobus de Voragine.“

Aus der Einleitung zur Legenda aurea in der Übersetzung von Richard Benz.