Über Zufall

„(…) hier wie dort steht der Gedanke im Vordergrunde, daß so der Zufall dem Maler zu Hilfe komme. Als Ausgangspunkt dieser durch zahlreiche antike Quellen verstreuten Berichte darf wohl der Vergleich der Formen des Zufalls mit denen, die der Künstler schafft, gelten. in der Biographik der Renaissance wird diese Erscheinung in ein anderes Licht gerückt. Piero di Cosimo sei (nach Vasari IV, 134) bisweilen stehengeblieben, „um eine Wand zu betrachten, auf die Kranke gespieen hatten und schuf sich daraus Reiterschlachten, die seltsamsten Städte und die größten Landschaften, die man je sehen konnte. Ähnlich tat er es bei Wolken“. Hier also bietet das Gebilde des Zufalls dem Künstler den Anlaß, seine Phantasie zu entfalten, um in die Zufallsbildungen Getalten hineinzusehen. Man könnte vermuten, daß es sich um ein Stück persönlicher Eigenart des Piero handle, dessen Biographie in Vasaris Schilderung an absonderlichen Zügen reich ist. Aber, was uns Vasari über seine Versuche, Zufallsgebilde zu deuten, berichtet, hat in der Zeitanschauung einen festen Platz: Leonardo da Vinci hat in seinen Aufzeichnungen die Deutung nasser Flecke an den Wänden zur Übung empfohlen, um die Einbildung des Künstlers rege zu erhalten; man darf sogar die Vermutung aussprechen, daß Piero, dessen künstlerische Abhängigkeit von Leonardo gesichert ist, die Anregung zu seinem Verfahren von ihm empfangen habe (…). Die Anweisung des Leonardo steht nicht isoliert. Eine großartige Weite der Beziehung wird faßbar, wenn wir erfahren, daß der chinesische Maler Sung-Ti (11. Jahrhundert) dem Ch’ên Yung-chih den Rat gibt, ein Landschaftbild nach den Anregungen zu gestalten, die ein zerfallene Mauer seiner Phantasie nahebringt. „Dann“, sagt er, „magst Du Deinen Pinsel Deiner Phantasie folgend spielen lassen und das Ergebnis wird himmlisch, nicht menschlich sein.“ (…)

Stellt die antike Biographik die Zufallsbildung als gleichberechtigt neben das Werk des Künstlers, dem sie ein Zufall zuweilen einfügt, so soll sich für die Vorstellung eines Leonardo an ihnen Schöpferkraft und Phantasie des Künstlers schulen. Einem gleichartigen Gedanken hat Goethe vor einer bestimmten Gruppe von Zufallsbildungen, den Wolken, Ausdruck gegeben:

„Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft.“
Howards Ehrengedächtnis

(Wer historische Perspektiven liebt, mag ein weiteres Glied anfügen: Was Leonardo empfiehlt, um die Schöpferkraft zu üben, hat die Experimentalpsychologie unserer Tage aufgegriffen – im Formdeutungsversuch von Zufallsgebilden nach Rorschach –, um eine menschliche Anlage zahlenmäßig faßbar und zu psychodiagnostischen Zwecken verwertbar zu machen.)“

Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1995, S. 72/73. Die Erstausgabe des Textes erschien 1934.

Über die „Mona Lisa“

„Die Landschaft selbst, die weit hinauf, bis über die Augenhöhe des Modells reicht, ist von merkwürdiger Art: phantastisch-zackige Berglabyrinthe, dazwischen Seen und Ströme. Was aber das sonderbarste ist: sie wirkt in ihrer unbestimmten Ausführung wie ein Traum. Sie hat einen andern Grad von Realität als die Figur, und das ist keine Laune, sondern ein Mittel, den Eindruck des Körperhaften zu gewinnen. Lionardo verwertet hier theoretische Einsichten über die Erscheinung ferner Gegenstände, worüber er sich auch im Traktat ausgelassen hat [1]. Der Erfolg ist der, daß im Salon Carré des Louvre, wo die Mona Lisa hing, alles andere neben ihr flach erschien, selbst Bilder des 17. Jahrhunderts. Die Farbenstufen der Landschaft sind: braun, grünblau und blaugrün, worauf sich der blaue Himmel anschließt. Genau dieselbe Folge, wie sie Perugino hat in dem ebenfalls dem Louvre gehörenden Bildchen mit Apollo und Marsyas.

Lionardo nannte die Modellierung die Seele der Malerei. Wenn irgendwo, so kann man vor der Mona Lisa die Bedeutung des Wortes ahnen lernen. Die delikaten Hebungen und Senkungen der Oberfläche werden zum Erlebnis, als ob man selbst mit Geisterhand darüber hinglitte. Die Absicht geht noch nicht auf das Einfache, sondern auf das Viele. Wer länger mit dem Bilde verkehrt hat, wird die Erfahrung bestätigen, daß es die nahe Betrachtung verlangt. Auf die Ferne verliert es bald seine eigentliche Wirkung. (Das gilt noch mehr von Photographien, die sich darum nicht zum Wandschmuck eignen.) Es unterscheidet sich darin prinzipiell von den späteren Bildnissen des Cinquecento, und in gewissem Sinne haben wir hier in der Tat den Abschluß einer Richtung, die ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert hat, die Vollendung des ‘feinen’ Stils, dem die Plastiker vor allem ihre Bemühungen widmeten. Die jung-florentinische Schule ist nicht darauf eingegangen, einzig in der Lombardei wurden die zarten Fäden weitergesponnen [2].

[1] Buch von der Malerei, No. 128 (201).
[2] Daß die „belle ferronnière“ (Louvre) nicht in das Werk Lionardos hineinpaßt, ist schon mehrfach empfunden worden. Das schöne Bild ist neuerdings versuchsweise dem Boltraffio zugeschrieben worden, was allerdings wenig Überzeugendes hat.“

Wölfflin, Heinrich: Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance, 9. Auflage, Basel 1968, S. 50/51.