Über Torsi in der Skulptur

„Mit der Reduktion auf die Rumpfpartie gab der Bildhauer alle psychologischen Momente auf und entindividualisierte die menschliche Figur. Der Torso ist von aller Bedeutungshaftigkeit losgelöst, die auch, wenn nicht sogar besser, die dargestellte Wirklichkeit selbst oder deren Darstellung in einem anderen Medium, besonders durch Sprache, vermitteln könnte. Als Torso erzählt die Plastik keine Geschichten mehr, ihr „Inhalt“ ist ihre plastische Durchbildung, ihr „modelé“, allein in der Formung des plastischen Materials für den Rezipienten erfahrbar.

Neu war am Ende des vorigen [, des 19.,] Jahrhunderts nicht der Torso schlechthin, denn seit Jahrhunderten gehörte der geschichtliche Torso – die Plastik, die durch verschiedene Einflüsse von Mensch und Natur im Laufe der Zeit einen Teil ihrer Abbildfunktion verloren hatte – zur gängigen Erfahrung von Künstlern und Publikum; neu war aber, daß ein Bildhauer eine Darstellung des menschlichen Körpers ohne Kopf und Gliedmaßen zum vollendeten, selbständigen Kunstwerk erklärte und sie nicht als Bozetto oder Vorstudie verstand, die vom Publikum als Kunstwerk deshalb akzeptiert werden konnte, weil sie eine vollständigere Darstellung versprach.“

Schnell, Werner: Zwischen Abbild und „Realität“ – auf dem Weg zur Plastik ohne mimetische Funktion, in: Kat. Ausst. Skulptur. Ausstellung in Münster, Katalog I: Die Entwicklung der abstrakten Skulptur im 20. Jahrhundert und die autonome Skulptur der Gegenwart, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1977, Münster 1977, S. 12.

Über Archipenko

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“

„Traditionally there was a belief that sculpture begins where material touches space. Thus space was understood as a kind of frame around the mass. We may change the forms of solid volumes many times, but the actual existence of the outline of the forms, beyond which is the beginning of space, seems to be unavoidable. Ignoring this tradition, I experimented, using the reverse idea and concluded that sculpture may begin where space is encircled by the material. in such cases it is the material that becomes the frame around the area of space, having its own significance.“

Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.