Kunst gucken: PLAYTIME, Kunstbau im Lenbachhaus, München

Der Kurs Spaces of Experience wird immer mehr zur Wundertüte. Am Anfang dachte ich, naja, da gucken wir uns halt ein paar Museen an, was soll sich da schon groß unterscheiden, das sind ja immer Räume mit Zeug drin, aber je länger der Kurs dauert, desto spannender werden die Einblicke. Wir waren zum Beispiel in der Alten Pinakothek, wo wir über den Einfluss von Wandfarben und Licht auf die Kunstrezeption sprachen. Danach kam das Bayerische Nationalmuseum dran, in dem ich die sogenannten period rooms kennenlernte – also Räume, die so gar nicht dem heute gewohnten white cube entsprechen, sondern Räume, die die BesucherInnen in eine bestimmte Stimmung versetzen sollen, indem durch Einrichtung und Gestaltung des Raums eine Epoche erweckt wird. So gibt es Räume, die an eine gotische Kirche erinnern, wieder andere sind im Stil von römischen Thermen gestaltet, und ein dritter ist quasi selbst das Ausstellungsstück: Die Holzvertäfelung der Augsburger Weberstube wurde auf eine eigens dafür gestaltete Wand aufgebracht, so dass man sich wirklich wie im 15. Jahrhundert fühlt. Was eine wissenschaftliche Auseinandersetzung aber erschwert – der Kurator erwähnte, dass man die Wandvertäfelung natürlich auch auf ein Stahlgerüst hätte anbringen können, aber das war Ende des 19. Jahrhunderts – aus der Zeit stammt der Raum – noch nicht en vogue.

Dann kam die Hypo-Kunsthalle, die sich von den bisherigen Museen dadurch unterschied, dass sie keine ständige Sammlung hat, was die Organisation von Ausstellungen erschwert. Normalerweise laufen die Deals zwischen Museen flapsig ausgedrückt so: „Leihst du mir deinen Kirchner, leihe ich dir meinen Picasso.“ Diese Möglichkeit hat die Hypo-Kunsthalle nicht, weswegen sie meist mit anderen Museen kooperiert, das heißt, eine Ausstellung findet nacheinander an zwei Orten statt. Was das andere Museum davon hat? Ganz simpel: mehr Einnahmen. Ein Beispiel: Bei einer Kooperation mit dem Kunsthistorischen Museum in Wien waren die Einnahmen durch Kataloge deutlich höher als bei einer Einzelausstellung im KHM – aus dem schlichten Grund, dass das KHM eher eine Touristenattraktion ist. Touris gucken sich die Kunst pflichtschuldig an, wollen aber keinen schweren Katalog mit nach Hause schleppen. Die Hypo-Kunsthalle wird eher von MünchnerInnen besucht bzw. Menschen, die gezielt diese eine Ausstellung sehen wollen, und die geben dann auch mal 40 Euro aus und tragen drei Kilo Papier in die U-Bahn. Schon werden deutlich mehr Kataloge zur gleichen Ausstellung verkauft und beide Museen haben was davon.

Was ich an dem Haus auch spannend finde, ist seine variable Ausstellungsarchitektur. Die Räume sind sehr wandelbar, weswegen ich bei der von uns besuchten Dix-Beckmann-Ausstellung auch fast in den Ausgang anstatt in den Eingang gelaufen wäre, denn der lag bei meinem letzten Ausstellungsbesuch (Pracht auf Pergament, 1000 Jahre alte Bücher) eben am anderen Ende. Diese Ausstellung kam für mich etwas früh; jetzt, mit meinem ganzen frisch erworbenen Mittelalterwissen, könnte ich sie viel mehr würdigen. Aber ich war ja damals schon eine brave Besucherin und habe 40 Euro für drei Kilo Papier ausgegeben und kann mir daher jetzt immerhin noch den Katalog angucken.

Dann kam das Haus der Kunst und die Matthew-Barney-Ausstellung zu seinem Film River of Fundament, die mich überraschenderweise doch beeindruckt hat (hatte ich nicht erwartet). Hier fand ich natürlich besonders die Geschichte des Hauses spannend, die inzwischen auch wieder sichtbar ist. Wo nach dem 2. Weltkrieg versucht wurde, die klassische Nazi-Architektur zu verschleiern, wurde nach und nach bewusst zurückgebaut. Blöderweise habe ich mir ausgerechnet das Wort „Blutwurstmarmor“ für die rostroten Säulenverkleidungen gemerkt. Und noch mehr sinnloses Wissen: Die Fliesengröße der Fußböden ist im ganzen Haus unterschiedlich, je nachdem wie langsam oder schnell man die BesucherInnen an den Werken vorbeiführen will. In der ehemaligen Ehrenhalle – die heutige Mittelhalle, also der Riesenraum, in den man reinkommt, wenn man geradeaus durchgeht – sind die Fliesen ungefähr ein mal einen Meter groß: perfekte Stechschrittweite. Im ersten Stock, wo die kleinen Bildwerke hängen, sind es ungefähr 50 mal 50 Zentimeter, damit man sich möglichst langsam bewegt. Und im Erdgeschoss, da wo jetzt gerade Barney vor sich hinmonumentiert, liegen Fliesen, die ungefähr 65 mal 65 Zentimeter groß sind: die „Schlenderfliesen“. Der Begriff ist seit dem Besuch gnadenlos in meinem Wortschatz.

lenbach_TimeClock_500

Tehching Hsieh, „One Year Performance 1980-1981 (Waiting to Punch the Time Clock)“
Photograph by Michael Shen
© 2014 Tehching Hsieh
Courtesy the artist and Sean Kelly, New York

Letzten Mittwoch besuchten wir den Kunstbau des Lenbachhauses, also diesen lustigen Ausstellungsraum an der U-Bahn-Station Königsplatz, wo man aus dem Haus raus auf die Rolltreppen zur U-Bahn guckt und umgekehrt die U-Bahn-Gäste beim Runterfahren ein bisschen Kunst mitkriegen. Die Ausstellung: PLAYTIME. Ich zitiere von der Ausstellungswebsite (Binnen-I, yay):

„Arbeit verspricht nicht nur Selbstverwirklichung, sondern auch soziale Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. Nicht zuletzt deshalb hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben stattgefunden. Das Paradox von Arbeit liegt heute vor allem darin, dass der arbeitende Mensch durch die zunehmende Automatisierung und Technisierung überflüssig zu werden scheint, während gleichzeitig alles zu Arbeit wird. (…)

Die Ausstellung PLAYTIME knüpft an die in Jacques Tatis gleichnamigen Film geäußerte, feinsinnige Kritik der modernen Arbeitswelt an und stellt verschiedene Fragen: Wie setzen sich KünstlerInnen unterschiedlicher Generationen und Hintergründe mit dem Thema Arbeit auseinander? Was bedeutet künstlerisches Arbeiten heute? Und inwiefern unterscheidet sich künstlerische Arbeit von anderen Formen der Arbeit?“

Die Ausstellung versammelt Videokunst, Zeichnungen, Fotografien, Dokumentationen von Performances und Objektkunst und ist damit von vornherein sehr abwechslungsreich. Noch spannender sind natürlich die einzelnen Auseinandersetzungen mit dem Thema – und für mich als Kursteilnehmerin bzw. Studentin wie immer die Hintergrundinfos bzw. Diskussionen mit der Kuratorin. So habe ich zum Beispiel noch nie darüber nachgedacht, ob es sich um verschiedene Kunstwerke handelt bzw. sich das Wesen des Werks ändert, wenn sich das Medium ändert, mit dem es wiedergegeben wird.

Eines meiner liebsten Werke war Martha Roslers Semiotics of the Kitchen von 1975 (hier auf YouTube zu sehen), das ich im letzten Semester im Kurs über amerikanische Kunst seit 1945 kennengelernt habe. Dieses Werk habe ich zum ersten Mal vollständig in einem Ausstellungskontext gesehen und das fühlte sich ein bisschen an wie einen Klassiker zu lesen. Rosler setzt sich mit der Rolle der Frau auseinander, die traditionell in der Küche verortet ist. Sie zeigt, wie auf Shopping-Kanälen, verschiedene Küchenutensilien in alphabetischer Reihenfolge in die Kamera, nutzt sie aber nicht so, wie wir heute im Zeitalter von kuscheligen Foodblogs eine Pfanne oder ein Messer zeigen würden, sondern geht aggressiv mit ihnen um bzw. nutzt harte, abgesetzte Bewegungen statt des klischee-igen Umgangs, den man erwartet. Wir haben uns generell bei den Videoinstallationen gefragt, ob es noch das gleiche Kunstwerk ist, wenn es von einer DVD abgespielt wird. Es gibt durchaus KünstlerInnen, die genau vorgeben, wie ihr Werk wiedergegeben werden soll – auf welchem Gerät welcher Bauweise, in welchem Abstand stehen eventuell Sitzgelegenheiten davor oder eben nicht, soll der Raum dunkel sein, muss es überhaupt ein Extraraum sein usw. Gehört die Wiedergabe des Werks noch zum Inhalt oder ist es eine Äußerlichkeit, die verhandelbar ist?

Ein weiteres Kunstwerk hat mich länger beschäftigt: Tehching Hsieh hat mit seinem Time Clock Piece eine einjährige Performance geschaffen, die viele Dokumente erzeugte. Sein Werk: ein Jahr lang, jeden Tag zu jeder vollen Stunde eine Karte in einer Stempeluhr stempeln. Was mich so irre macht an diesem Werk, ist der schiere Aufwand an körperlicher und geistiger Kraft, die dazu nötig ist, ein Jahr lang nie richtig durchzuschlafen und nichts wirklich machen zu können, weil es alle 60 Minuten unterbrochen wird. Von einem Jahr ausgesprochener Anstrengung bleibt nichts übrig, was irgendeinen Nutzen hat, wenn man schlichte kapitalistische Maßstäbe anlegt. Was stattdessen übrig bleibt, sind Berge von Stempelkarten, ein Video, das den Künstler bei jedem Stempeln zeigt sowie Fotos, auf denen das gleiche zu sehen ist. Hier fand ich eben diese Dokumente spannend, denn Hsieh überlässt es den jeweiligen Museen, was sie von diesem Werk ausstellen: alles? Nur eine Stempelkarte oder 150? Nur das Video und nicht die Bilder? Nur ein paar Bilder und kein Video? Ich finde dieses flexible Kunstwerk sehr interessant, mal abgesehen von der Performance an sich, die mir fassungslose Bewunderung abringt.

lenbach_HUMAN_RESOURCES500

Julian Röder, from the series: „Human Resources“, 2007–2009
backlight illuminated A1A transfer print in aluminium frame, 70 x 50 cm
Courtesy the artist and Russi Klenner, Berlin

Ich habe mich gefreut, mal einen Blick auf Andrea Frasers Untitled von 2003 werfen zu können, denn davon hatte selbst ich, die immer noch erschreckend ungebildet ist, was zeitgenössische Kunst angeht, etwas gehört. Ich zitiere die Künstlerin, die den Begleittext zu ihrem Werk selbst verfasste:

„Das Projekt Untitled begann im Herbst 2002, als Fraser den Galeristen Friedrich Petzel bat, einen Sammler zu finden, der an einem Projekt partizipieren würde, bei dem dieser Sex mit der Künstlerin in einem Hotelzimmer haben würde und die Begegnung auf einem vorab gekauften Videoband dokumentiert werden sollte. Der Verkauf war arrangiert und die Künstlerin und der Sammler trafen sich in einem Hotel in New York Anfang 2003. Das entstandene Video, das bis auf die Löschung des Tons unbearbeitet blieb, wurde als Kunstwerk definiert; von der Auflage von fünf erhielt der teilnehmende Sammler die Auflagennummer 1/5.“

Fraser stellt das Werk nur noch äußerst selten in Sammelausstellungen aus; stattdessen ist es fast ausschließlich in ihren Werkschauen zu sehen. Umso mehr hat es mich gefreut, es im Kunstbau zu finden. Auch hier ist die Aufstellung wichtig: Man sieht dem tonlosen Video auf einem kleinen Monitor zu, der in Kniehöhe in einer Ecke gedrängt steht. Man kann sich nicht hinsetzen und entspannt einem Geschlechtsakt zugucken, sondern lungert irgendwie komisch-voyeuristisch im Museumsgang rum. In unserer Gruppe kam die Frage nach dem Jugendschutz auf, woraufhin die Kuratorin erklärte, dass man sich bewusst gegen irgendwelche Hinweisschilder entschieden habe, sondern die Menschen an der Kasse angewiesen sind, Familien mit Kindern oder Jugendliche darauf hinzuweisen, welche Art Material zu sehen sein wird. Die Idee fand ich sehr gut; das Kunstwerk bekommt so keinen seltsamen Schmuddelcharakter, und einen persönlichen Hinweis finde ich eh netter als noch mehr Schilder bzw. Text an den Wänden. Wobei ich dessen Menge sehr angenehm fand.

2014_Playtime800

Ausstellungsansicht PLAYTIME
Dieter Roth, „Solo Szenen“
Dan Perjovschi, „Still Drawings Moving News“
Foto: Lenbachhaus
Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Weitere Lieblinge der Ausstellung waren die Bürozeichnungen von Peter Piller, die zwischen 2000 und 2004 entstanden. Als Angestellter einer Medienagentur verarbeitete er den schnarchigen Büroalltag auf dem Firmenbriefpapier, das jetzt mit Sätzen und Bildern versehen gerahmt im Museum hängt. Oder die Fotoserie Human Resources von Julian Röder. Erst in dieser Ausstellung ist mir die Perfidie dieses Begriffs so richtig aufgefallen. Außerdem die Wandbemalung von Dan Perjovschi. Er gestaltete, mit dicken Eddings ausgestattet, die Wandfläche direkt am Eingang und stimmt einen so auf die Ausstellung ein. Mir kam sein Werk zwar eher politisch motiviert vor anstatt dass es dem Motto der Ausstellung folgte, aber vielleicht ist es bei ihm eher die Arbeit des Wandbeschriftens an sich und nicht so sehr der Inhalt, der passt. Er leistet für die Ausstellung eine Arbeit, und mit dem Ende der Schau endet auch sein Werk, denn die Wände werden wieder überstrichen. Das fasst er übrigens selbst ganz rechts unten in der Ecke zusammen: “They pay me to mess with their walls, can you believe it?”

PLAYTIME läuft noch bis zum 29. Juni. Den Katalog kann man sich tollerweise für lau als eBook runterladen. Keine 40 Euro, keine drei Kilo Papier.