Links vom 19. April 2015: Auschwitz als Museum, Art as Therapy, Wordless Ads

Preserving the Ghastly Inventory of Auschwitz

Rachel Donadio schreibt in der NYT darüber, wie Konservator*innen und Restaurator*innen mit Auschwitz als Gedenkstätte umgehen.

„The job can be harrowing and heartbreaking, but it is often performed out of a sense of responsibility.

“We are doing something against the initial idea of the Nazis who built this camp,” said Anna Lopuska, 31, who is overseeing a long-term master plan for the site’s conservation. “They didn’t want it to last. We’re making it last.”

The strategy, she said, is “minimum intervention.” The point is to preserve the objects and buildings, not beautify them. Every year, as more survivors die, the work becomes more important. “Within 20 years, there will be only these objects speaking for this place,” she said.“

Es gibt auch Stimmen, die sich gegen die Erhaltung der Gebäude aussprechen:

„Over the years, there have been dissenting views about the preservationist approach. “I’m not convinced about the current plans for Auschwitz,” said Jonathan Webber, a former member of the International Auschwitz Council of advisers, who teaches in the European Studies program at the Jagiellonian University in Krakow. “If you have a very good memorial, you could achieve that without having to have all this effort on conservation and restoration,” he added.“

Ich lese gerade ein sehr spannendes Buch, über das ich auch irgendwann mal bloggen werde: Munich and Memory: Architecture, Monuments and the Legacy of the Third Reich (auf Deutsch dusselig übersetzt mit Architektur und Gedächtnis. München und Nationalsozialismus. Strategien des Verbrechens) von Gavriel D. Rosenfeld. Es geht um die Auseinandersetzung um den Wiederaufbau von München 1945. Die Stadt wurde zwischen 1943 und 1945 mindestens 66 Mal durch Luftangriffe beschädigt. Nur zweieinhalb Prozent aller Gebäude blieben unbeschädigt; zwischen einem Drittel bzw. der Hälfte aller Gebäude wurden schwer beschädigt bzw. zerstört, in der Altstadt 60%, in Schwabing 70%. Der größte Teil des Buches befasst sich mit den Diskussionen darüber, wie man die Stadt wieder aufbaut – oder ob überhaupt: Was wird abgerissen (wie die Maxburg), was originalgetreu wieder aufgebaut (wie der Alte Peter) und was nur äußerlich (wie die Frauenkirche, deren gotikisiertes Inneres nicht wiederherstellt wurde, oder die Residenz). Es gab sogar die Diskussion, Schuttberge zu erhalten, die als Mahnung gelten sollten.

Worauf ich hinaus will: Es gibt in der Denkmalpflege zwei Strömungen, die ich erst durch dieses Buch kennengelernt habe. Man kann Gebäude wegen ihrer stilistischen Reinheit oder wegen ihrer Authentizität erhalten. „Laut Alois Riegl bestand ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem historischen Wert eines Gebäudes und seinem Alterswert.“ (Rosenfeld 2004, S. 57.) Der historische Wert besagt, dass die architektonische Form eines Gebäudes uns etwas über die jeweilige Zeit, ihre Geschichte und Kunstgeschichte sagt. Der Alterswert zeigt durch seinen Verfall bzw. seine Zeitspuren Geschichte in physischer Form. Georg Dehio sagte, dass auch die Zerstörung durch Geschichte respektiert werden müsse, wir können keinen Trost durch Täuschung erfahren. Nach 1945 wurde die letzte Position zeitweilig aufgegeben, indem man ein neues Prinzip der „schöpferischen Denkmalpflege“ etablierte (vor allem durch Rudolf Esterer): Es muss genug Originalmaterial vorhanden sein, um das Gebäude wieder aufzubauen, der Originalzustand musste dokumentiert vorliegen, um ihn nachzubauen, und die organische Einheit von Baumaterial und Architekturstil sollte wiederhergestellt werden.

Dieses Prinzip der schöpferischen Denkmalpflege wird auch in Auschwitz teilweise angewendet:

„In 2009, the infamous metal sign reading “Arbeit Macht Frei,” or “Work Makes You Free,” which hangs over the entrance gate, was stolen. It was found several days later elsewhere in Poland, cut into three parts. (A Swede with neo-Nazi ties and two Poles were later charged with the crime.) Mr. Jastrzebiowski helped weld the sign back into one piece. But the scars from the welding told the story of the sign’s theft more than of its long history, and so the museum decided it would be more authentic to replace the damaged sign with a substitute.“

In Auschwitz geht es natürlich nicht um eine kunsthistorische Auseinandersetzung, sondern um eine historische. Daher gibt es an diesem Ort auch andere Dinge zu bewahren als nur Gebäude. Manchmal bewahrt man sie allerdings nicht, und ich glaube, das ist richtig so:

„The museum has decided not to conserve one thing: the mass of human hair that fills a vast vitrine. Over the years, the hair has lost its individual colors and has begun to gray. Out of respect for the dead, it cannot be photographed. Several years ago, the International Auschwitz Council of advisers had an agonizing debate about the hair. Some suggested burying it. Others wanted to conserve it. But one adviser raised a point: How can we know if its original owners are dead or alive? Who are we to determine its fate?

It was decided to let the hair decay, on its own, in the vitrine, until it turns to dust.“

Art as Therapy

Noch ein Buchtipp: Art as Therapy von 2013. Die Website dazu gibt kurze Einblicke in die niedliche Idee, das mit Kunst alles heilbar ist. Ich würde eher auf „erträglich“ setzen. Hier ein Ausschnitt aus Pieter de Hoochs At the Linen Closet von 1663, das sich mit dem Problem „Meine Arbeit ist so banal“ befasst:

„The linen closet itself could easily be resented. It is an embodiment of what could, under an unhelpful influence, be seen as boring, banal, repetitive – even unsexy.

But the picture moves us because we recognise the truth of its message. If only, like de Hooch, we knew how to recognise the value of ordinary routine, many of our burdens would be lifted. It gives voice to the right attitude: the big themes of life – the search for prosperity, happiness, good relationships – are always grounded in the way we approach little things.“

(via @gedankentraeger)

Wordless Ads Speak Volumes In ‘Unbranded’ Images Of Women

Ein Artikel bzw. Radiobeitrag von NPR setzt sich mit Bildern in der Werbung auseinander. Was bleibt übrig, wenn wir die lustigen Headlines weglassen?

„In 2008, [Hank Willis] Thomas removed the text and branding from ads featuring African-Americans, creating a series he called Unbranded, which illustrated how America has seen and continues to see black people.

In the run-up to the 2016 election — and the possibility of a white woman being nominated — he’s mounted a new exhibit, featuring women in print. It’s called Unbranded: A Century of White Women, and it features images from mainstream commercial print advertisements from 1915 to today.

Stripping away the normal elements of an advertisement and reducing it to pure image is powerful, Thomas says.

“I think what happens with ads — when we put text and logos on them, we do all the heavy lifting of making them make sense to us,” he tells NPR’s Linda Wertheimer. “But when you see the image naked, or unbranded, you start to really ask questions.

“That’s why we can almost never tell what it’s actually an ad for, because ads really aren’t about the products. It’s about what myths and generalizations we can attach, and the repetition of imagery of a certain type.”“

(via @ellebil)

Kunst gucken: „Rodtschenko – Eine neue Zeit“ im Bucerius Kunst Forum

Für meine Hausarbeit im zweiten Semester über Alexander Archipenkos Schreitende Frau habe ich wieder wild in der Gegend herumgelesen wie im ersten Semester bei Hans Memling auch schon. Ich habe mir bewusst einen Künstler bzw. ein Werk ausgesucht, von dem ich noch nie gehört hatte, eben weil ich dann wild in der Gegend rumlesen muss, um es einordnen zu können. Die erste Einordnung fand natürlich schon im Kurs statt, wo zum Beispiel Wladimir Tatlin und seine Konterreliefs bzw. das Denkmal für die III. Internationale erwähnt wurden (beide hier zu sehen) oder natürlich das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Seitdem weiß ich, wo in russischen Wohnstuben die Ikone hängt, nämlich da, wo in der Ausstellung 0.10 1915 das Schwarze Quadrat hing.

Wen ich noch kennenlernte: Alexander Rodtschenko und seine Raumkonstruktionen von 1920/21, die ich im Kopf immer mit der Schreitenden Frau verbinde. Umso mehr hat es mich gefreut, dass in Hamburg gerade eine Ausstellung über Rodtschenko läuft, und dort stehen und hängen auch – rekonstruiert – seine Raumkonstruktionen.

Rodtschenko Ausstellung

Ausstellungsansicht v.l.n.r: Raumkonstruktionen Nr. 12 (Oval im Oval), Nr. 22, Nr. 23, Nr. 13 (Dreieck im Dreieck), Nr. 8 (Kreis im Kreis), Nr. 11 (Quadrat im Quadrat), alle Werke von 1920/21. Foto: Ulrich Perrey.

Ganz kurz gesagt, ist das Besondere an der Schreitenden Frau der durchbrochene Oberkörper und Kopf. Archipenko ist der erste Bildhauer, der Masse weglässt und den dadurch entstandenen Raum als Teil der Skulptur begreift:

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“ (1)

Mit Archipenko entstand so die Idee, dass Raum, Luft, Lichteinfall und als Konsequenz auch Bewegung Teil einer Skulptur sein können. In dieser gedanklichen Tradition schuf Rodtschenko seine Raumkonstruktionen. Bei ihnen gilt es nicht nur, das hölzerne Gebilde zu sehen, sondern auch die Bewegung und den sich dadurch ständig verändernden Schattenwurf einzubeziehen. Das schafft die Ausstellung sehr schön, indem die Werke sehr zentral aufgehängt sind; um sie herum stehen weiße Stoffleinwände, und diverse Spots erzeugen vielfältige Schatten, sowohl auf dem Boden als auch auf den Leinwänden. Man kann die Plattform, über der die Werke hängen, umrunden und sie so von allen Seiten und mit unterschiedlichen Schattenwürfen betrachten.

Rodtschenko ging es aber in seinem Werk aus dieser Zeit nicht nur um die Raumwirkung von Konstruktionen, sondern er experimentierte auch in Bildern mit Farben und Linien. Während zum Beispiel Picasso oder Braque in Paris versuchten, dreidimensionale Körper in Farbflächen zu zerlegen und damit die Realität zu abstrahieren, ging Rodtschenko noch einen Schritt weiter: Für ihn war ein Bild ein selbständiges Ding, es musste nichts abbilden, nichts darstellen, es war und galt ganz für sich. In seinen Werken experimentierte er mit Farbkontrasten bzw. verschiedenen Farbaufträgen und ihrer Wirkung. Diese Bilder haben mir ganz besonders gefallen, eben weil sie so für sich stehen. Man muss sie nicht ergründen oder in ihnen nach etwas suchen, man kann sich ihnen einfach hingeben. (Total unwissenschaftlich.)

Rodtschenko_Komposition_Nr.66_1919

„Komposition Nr. 66 (86), Dichte und Gewicht“ (1919), Öl auf Leinwand, 122,3 x 73,5 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

(Hehe: Dieses Bild stand in der Pressedatenbank, für die ich mir brav eine Akkreditierung geholt habe, auf dem Kopf. Vielleicht ein Test?)

In weiteren Gemälden reduziert Rodtschenko noch weiter und nutzt nun die Linie als Darstellungsmöglichkeit. Sie stand bisher nicht im Zentrum der Malerei, sie umfasste nur Farbflächen oder schuf den Gegenstand, den sie umriss. Für Kandinsky war sie „Vermittler des Geistigen, das die materielle Welt überwinden sollte. Für Rodtschenko dagegen war die Linie ein präzises Werkzeug, ein bildnerisches Mittel zur Darstellung von Licht, Raum und Bewegung. Damit legte er den Grundstein für die kinetische Kunst des 20. Jahrhundert.“ (2)

Rodtschenko_Konstruktion_Nr.92

„Konstruktion Nr. 92 auf Grün“ aus der Serie „Lineismus“ (1919), Öl auf Leinwand, 73 x 46 cm, Regionales A. und W. Wasnezow Kunstmuseum, Kirow. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Einschub: Die kinetische Skulptur hat zum Beispiel Naum Gabo umgesetzt. Seine Standing Wave von 1919/20 (hier in riesengroß) besteht aus Metallstäben, die durch einen Motor in Schwingung versetzt werden. Erst die konstante Bewegung lässt vor unserem trägen Auge einen Körper entstehen.

Was die Linien in der Ausstellung angeht: Ich fand es sehr charmant, dass die Grundlinien, auf denen die Überschriften der Wandtexte stehen, stets ganz leicht nach links gekippt waren. Damit stand ein schräger Text über der geraden Copy, rot über schwarz – das passte sehr schön ins konstruktivistische Gesamtbild.

Rodtschenkos Schaffen umfasste aber nicht nur Skulptur (bzw. Konstruktion) und Malerei, sondern er widmete sich auch der Gestaltung von Alltagsgegenständen, der Fotografie und der Werbegrafik. Das Design, was im Bucerius Kunst Forum an den Wänden hängt, lässt diverse Grafikpraktis sabbern (und mich auch), weil es auch nach fast 100 Jahren schick aussieht. Außerdem habe ich mich sehr über folgenden Satz an einem Exponat gefreut: „Der Text stammt von Majakowski, der zusammen mit Rodtschenko das erfolgreiche Werbekollektiv Reklam-Konstruktor betrieb.“ Reklam-Konstruktor! Alleine dafür möchte ich eine Agentur gründen.

Zurück zur Kunst: Mein liebstes Exponat war natürlich die Dame, die „BÜCHER!EINSELF11!!“ schreit.

Rodtschenko_Buecher_1924

„Bücher“. Werbeplakat mit dem Portrait von Lilja Brik für den Staatsverlag Lengis (1925), Druck, 56,5 x 80 cm, Sammlung Rodtschenko/Stepanowa, Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Die Ausstellung Rodtschenko – Eine neue Zeit läuft noch bis zum 15. September und lohnt sich sehr, weil sie es schafft, ein so breites Werk wie das Rodtschenkos zu komprimieren, ohne dass man das Gefühl hat, es entgeht einem etwas. Nebenbei waren alle Menschen im Bucerius Kunst Forum äußerst nett und zuvorkommend, der Ausstellungskatalog ist schick, UND man kommt als Kunstgeschichtsstudi umsonst rein. Like!

(1) Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.
(2) Kat. Ausst. Rodtschenko – Eine neue Zeit, Bucerius Kunst Forum Hamburg, 8. Juni bis 15. September 2013, Hamburg 2013, S. 121.