„Stoppt die Banalisierung!“ „Stoppt Ausrufezeichen in Überschriften!“

Wolfgang Ullrich polemisiert: Nicht alle Menschen sollten in Museen rumlungern. Ich polemisiere mal mit.

„Jetzt sollen selbst die Blinden sehen. In der National Gallery in London stanzte man dazu eigens ein Gemälde von Camille Pissarro auf eine Weise in Papier, dass sich wichtige Orientierungspunkte des Bildes ertasten lassen. Nicht nur seine Komposition, sondern sogar Farbverläufe werden auf diese Weise übersetzt, wie kürzlich der Dokumentarfilm National Gallery zeigte. Man kann das für verdienstvoll oder für vergeblich halten, es verrät vor allem viel über heutige Ansprüche der Kunstvermittlung: Niemand, wirklich niemand soll von der Beschäftigung mit Kunst ausgeschlossen werden.“

Und das ist ganz schlimm, weil …? Weil wir Kunsthistoriker*innen, Museumsmenschen, Künstler*innen irgendwelche Hoheiten abgeben müssen? Uns nicht mehr nur mit uns selbst befassen? Andere an einem wundervollen kulturellen Gut teilhaben lassen? Fürchterlich, echt.

„Das aber erinnert an die Tradition christlicher Missionskultur. Wie es in ihr darum ging, jedem Menschen, egal, wo und wie sozialisiert, die Chance zu geben, Gottes Wort kennenzulernen, will man heute ausnahmslos alle mit Kunst erreichen. Und wie der erfolgreich Missionierte ewiger Verdammnis entgehen kann, glaubt man auch im Fall der Kunst daran, dass durch ihre Vermittlung viel Gutes passiert: Extreme Emotionen ließen sich ausgleichen und Integrationsfortschritte erzielen, ja Kunst könne sinnstiftend wirken, zu Seelenheil und kognitiven Mehrleistungen führen, so heißt es in zahlreichen Publikationen. Die Missionsunrast des Christentums hat eine Nachfolge in der Vermittlungsunrast heutiger Kunstmuseen gefunden.“

Ich persönlich glaube sehr an eine sinnstiftende Wirkung von Kunst. Ich erwarte sogar eine von ihr. Nicht vom jedem Werk, nicht von jeder Künstler*in, aber ja: Ich will, dass Kunst etwas macht. Mit mir, im besten Fall mit der Gesellschaft. Ich will keine Kunst, die hübsch über dem Sofa aussieht, ich will Kunst, die aufwühlt, bewegt, beeindruckt, ärgert. Natürlich gibt es Kunst, die so offensichtlich missioniert, dass man nur grinsend vor ihren guten Absichten abwinkt, aber das sei ihr verziehen. Andere Kunst ist einfach nur da, und es liegt an mir, was ich mit ihr mache. Genau wie mit der Religion, bei der ich auch die Freiheit habe, sie links liegen zu lassen, mich ihr anzunähern oder sie zu umarmen. Ich kenne kein Museum, das mit Bibel und Tropenhelm Kontinente erobert, insofern halte ich den Vergleich für sehr hinkend. Ich sehe Museen, die sich bemühen, aber es zwingt mich niemand, diesen Bemühungen zu folgen.

„Tatsächlich erstaunt, wie sich die Museen mit der Entdeckung bisher noch kunstferner Milieus gegenseitig übertrumpfen. Fast schon selbstverständlich sind Veranstaltungen für Menschen mit Migrationshintergrund, Programme für Demenzkranke oder Angebote der sogenannten Geragogik für ältere Menschen. Das Lenbachhaus in München bietet auch Aktionen für “Erwachsene mit Babys”. In der Ankündigung kann man lesen: “Der inhaltliche Schwerpunkt ist das Familienporträt und die Darstellung von Kindern in der Kunst. Kein strenger Ablauf und kein vorgegebener Plan diktieren den gemeinsamen Rundgang, sondern die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmenden – ob Stillpausen oder Babygeschrei.”

Ist das nicht großartig, dass wir nicht mehr mit dem Großen Kunstführer im Anschlag durch Museen gehen müssen oder uns mit Audioguides abkapseln, sondern Kunst gemeinsam erleben können? Ist es nicht toll, dass sich die Institutionen auf neues Publikum einstellen, anstatt arrogant zu sagen, hier kommt nur das Bildungsbürgertum rein und sonst keiner? Ist es nicht wunderbar, wenn alte Menschen lernen, demente Menschen umsorgt und Menschen mit Migrationshintergrund einbezogen werden?

„Etwas präziser – und zugleich allgemeiner – könnte man die Hochkonjunktur der Kunstvermittlung als Folge einer Verbindung von Kunstreligion und Sozialdemokratie beschreiben. Verdankt sich jener der Glaube an die heilende Kraft von Kunst, so dieser der Anspruch, nicht nur Bildungs- oder Geldeliten dürften davon profitieren. “Das Museum der Gegenwart öffnet sich, baut Hürden ab, spricht neue Zielgruppen an und schafft neue Beteiligungsmöglichkeiten. Auf diese Weise entstehen neue Identitäten.” So formulierte es etwa Thomas Krützberg, Kulturdezernent in Duisburg.“

Nochmal: Fürchterlich, echt.

„Kunstmuseen sind innerhalb der letzten zwanzig, dreißig Jahre zu führenden Institutionen engagierter Sozialpolitik geworden. Dass sie noch andere Aufgaben haben, ja zwei Jahrhunderte lang vornehmlich dem Sammeln, Bewahren und Forschen gewidmet waren, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Hätten Staats- und Landesbibliotheken, ursprünglich aus demselben Geist wie Museen entstanden, dieselbe Entwicklung wie diese genommen, müssten sie heute einen Großteil ihrer Anstrengungen darauf verwenden, die Zahl der Ausleihen und Benutzer von Jahr zu Jahr zu erhöhen, und Politiker würden von Bibliotheksdirektoren verlangen, neue Benutzerkreise zu erschließen. Es würde nicht mehr reichen, nur ein bildungsbürgerliches und akademisches Publikum anzusprechen, vielmehr müsste man sich genauso um soziale Randgruppen kümmern und etwa eigene Kursprogramme für Analphabeten einrichten, die endlich auch zu Lesern werden sollen. Immerhin seien die Bibliotheken ja mit Steuergeldern finanziert!“

Schon wieder ein Vergleich, der Krankengymnastik braucht. Auch Bibliotheken haben unterschiedliche Zielgruppen. Nicht jede Bibliothek ist eine Stabi oder UB, stattdessen holen Stadtteilbibliotheken und Bücherhallen das nicht-akademische Publikum ab und versorgen es mit Bestsellern, DVDs und kindgerechter Literatur. Insofern muss sich nicht jede Bibliothek neue Benutzerkreise erarbeiten – die verteilen sich schon ganz brav von alleine. Die Kurse für Analphabet*innen halte ich übrigens für eine gute Idee: Wo, wenn nicht in einer Bibliothek, erschließt sich der Sinn des Lesens besser?

Dass Museen dem Sammeln, Bewahren und Forschen gewidmet sind, schließt übrigens nicht aus, dass man auch einfach in ihnen rumbummeln kann. Bis jetzt hat mich noch kein Besucher dabei gestört, wenn ich für die Uni vor einem Bild stand. Das geht ganz prima gleichzeitig.

„Niemals zuvor in der Geschichte wurde mit Kunstwerken so viel gemacht wie heute. Um sie herum ist eine enorme Geschäftigkeit entstanden, mit der seltsamen Erwartung, dass jedes Kunstwerk jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt etwas zu geben habe. Mochte das Vermitteln von Kunst in den Jahren nach 1968 aus einem Geist der Emanzipation und Freiheit heraus entstanden sein, so ist daraus ein Imperativ geworden, dessen problematische Folgen erst allmählich sichtbar werden. So weist die Kunstsoziologin Kathrin Hohmaier in einer jüngst publizierten Studie nach, was man bereits befürchten musste, nämlich dass Kunstvermittlung sogar negative Auswirkungen zeitigen kann. Im untersuchten Fall ging es darum, Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne Erfahrung mit Museen einen Zugang zu moderner Kunst zu bahnen. Allerdings entwickelten sie während des Vermittlungsprogramms “ein hochgradig präsentes Gefühl der sozialen Exklusion im musealen Raum” – und schließlich fanden sie moderne Kunst noch sinnloser als zuvor, es wuchsen “ihre Vorurteile ihr gegenüber”. Hohmaier vermutet, dass die Kunstvermittler sich ihrer Zielgruppe zu sehr anpassten: Statt den Jugendlichen Wissen oder Interpretationen zu den Werken zu bieten, beschränkten sie sich darauf, sie, ausgehend von Exponaten, selbst malen zu lassen. Damit aber wurde ihnen “ihre eigene Bildungsferne […] noch stärker ins Bewusstsein gerufen”.“

Der Punkt geht an Ullrich. Das halte ich auch für eine selten beknackte Idee, sich Kunst anzunähern, indem man sie imitiert. Ich erinnere mich an meinen schulischen Kunstunterricht, in dem unser Lehrer uns Beuys so nahebringen wollte: Wir sollten das Erdtelefon in anderer Form nachbilden. Ich habe einen Apfel neben eine alte Schreibmaschine montiert und hatte keine Ahnung, warum.

Ich frage mich, woher diese Idee kommt, sich Kunst so zu erschließen. Dinge nachzubauen, um sie mechanisch zu verstehen, ja, das kapiere ich, aber Kunst ist meist mehr als ein konstruiertes Objekt. Kunst heißt oft, dass diesem Objekt eine Bedeutung eingeschrieben wurde, die nicht durch bloßes Nachbilden erkannt werden kann. Hier sehe ich es als sinnvoller an, mich dem Werk mit Wissensvermittlung oder Interpretationsansätzen zu nähern. Die Kunstvermittler*innen könnten eben diese vorgeben und dann darüber diskutieren, anstatt Menschen mit Fragezeichen auf der Stirn ein paar Stifte in die Hand zu drücken.

Gerade Beuys ist durch pures Sehen kaum nachzuvollziehen – allerdings ist er deshalb für mich auch immer reizvoller geworden. Seine Werke haben 20 Jahre in mir rumort, bis ich endlich mal ein Buch über ihn gelesen habe bzw. länger vor seinen Werken rumgestanden habe. Ich bin mir inzwischen nicht mal sicher, ob ich ihn komplett verstehen will – meist reicht es mir, mich mit seinen Werken zu konfrontieren oder ihm bei der Arbeit zuzuschauen, z. B. im Lenbachhaus, wo ein Video seiner Performance I like America and America likes me läuft. Das wird bei mir meist zur Meditation, wenn ich lange bei Beuys rumhänge und weniger zur kunsthistorischen Auseinandersetzung. Aber auch hier: Wer sagt, dass das die einzig richtige Art ist, sich mit Kunst auseinanderzusetzen? Ich mag es sehr, bei einigen Werken gerührt zu werden, von anderen fasziniert zu sein – und wieder andere gelangweilt links liegen zu lassen. Daher stimme ich Ullrich mal wieder nicht zu, wenn er sagt, dass „jedes Kunstwerk jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt etwas zu geben habe“.

„Kunstvermittler – zum allergrößten Teil Kunstvermittlerinnen – sind höchst findig, wenn es darum geht, ihr Publikum dort abzuholen, wo es steht. Nur liefern sie es leider genau dort auch wieder ab. Sie bemühen sich gerade nicht um Bildung oder Aufklärung; vielmehr wird der jeweiligen Klientel suggeriert, sie befinde sich schon auf Augenhöhe mit der Kunst und stecke selbst voller kreativer Potenziale. Eigentlich gehe es nur noch darum, ein paar Unsicherheiten abzubauen.

Doch diese Einschätzung ist fatal. In ihrer Folge werden die Werke nämlich so vermittelt, dass nicht mehr viel von ihnen übrig bleibt. Vielmehr heißt Vermittlung von Kunst, diese bis zur Unkenntlichkeit zu verharmlosen. Hatten die Bildungsbürger noch den Ehrgeiz, sich die Kunst, die sie selbst nie hätten kaufen können, intellektuell anzueignen und sich damit als ihre wahren Besitzer zu fühlen, ja steigerte jemand wie Bazon Brock in seinen legendären Besucherschulen auf der Documenta das Selbstbewusstsein des Publikums noch durch ein Mehr an Bildung, verfolgt die Kunstvermittlung von vornherein ein anderes Ziel. Das Unbehagen, das eine schwierige, schroffe und rätselhafte Kunst auslöst, wird abgebaut, indem man all diese Eigenschaften durch Aktionismus überspielt und so tut, als sei Kunst letztlich doch ganz einfach und verlange keine Zugangsvoraussetzungen. Kunstvermittlung ist insofern vor allem Anästhesie: Sie dimmt alles auf eine vage Atmosphäre von Kreativität herunter.“

Ich bin darüber gestolpert, dass Ullrich hier als einzige Ausnahme vom generischen Maskulinum im Artikel auf die „Kunstvermittlerinnen“ hinweist. Ich kann nur spekulieren, ob hier eine latente Abneigung gegen die Mädels im Kunstbetrieb herrscht, die es weiblich-klischeehaft sozial und mütterlich eingestellt wagen, den dementen Migranten Kunst näherzubringen anstatt männlich-klischeehaft zu forschen, zu lehren und wissenschaftliche Karriere zu machen, die nur von wenigen Frauen gestört wird. Wenn ich mich in den Seminarräumen und Hörsälen umgucke, sehe ich allerdings, dass meine Kommilitonen zu ungefähr 90 Prozent weiblich sind. Wahrscheinlich gibt es daher schlicht mehr Kunstvermittlerinnen als Kunstvermittler, und der Seitenhieb Ullrichs geht peinlich ins Leere.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob wirklich alle Besucher*innenführungen Kreativität zum Ziel oder Ausgangspunkt ihrer Vermittlung haben. Ich gebe zu, ich mache selten Führungen mit, weil ich lieber selber gucke, aber man kommt ja nicht darum herum, auch mal bei einer zuzuhören, wenn sie im gleichen Raum stattfinden, in dem man selber steht. Spontan fällt mir eine Führung zu Mondrian im Bucerius-Kunst-Forum in Hamburg ein, wo eine Vermittlerin gerade einige Bilder mit der Biografie Mondrians in Verbindung brachte. Ein weiteres Mal hörte ich in der Hypo-Kunsthalle in München bei Rembrandt, Tizian, Bellotto einer Vermittlerin zu, wie sie vor einem Stillleben den Besucher*innen erzählte, ab wann welche Früchte überhaupt in Europa vorhanden waren, um gemalt werden zu können. Beide Ansätze fand ich sehr stimmig, und es musste auch niemand Blumen aus Fimo nachbasteln, um sich an einem floralen Bild erfreuen zu können. Bei einer dritten Führung in der Neuen Pinakothek sah ich allerdings eine Kindergartenklasse vor den Impressionisten auf dem Boden liegen und malen. Und das war genauso stimmig, weil es zu kleinen Kindern passte.

„Lange erwartete man gerade im linken Milieu, dass Kunst weh tue und das Bestehende negiere. Für Philosophen wie Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse bedeutete es nicht weniger als das Ende der Kunst, sie zu vermitteln und dabei zu verniedlichen, ja mit der Realität zu versöhnen. Heute jedoch müssen Vertreter einer derart kunstvermittlungskritischen Position mit dem Vorwurf rechnen, elitär zu sein. Sind Kritiker der Kunstvermittlung nicht zu verwöhnt und abgehoben, um erkennen zu können, in welch bedauernswerter Lage sich unterprivilegierte Minderheiten befinden? Sind sie sogar gegen diese Minderheiten?

Kunstvermittlung konnte sich auch deshalb widerstandslos durchsetzen, weil kein Museumsdirektor in den Verdacht geraten will, minderheitenfeindlich zu sein. Dabei ist dieser Verdacht alles andere als gerechtfertigt. Übertragen auf andere Bereiche hieße das, auch dann Diskriminierung zu unterstellen, wenn jemand meint, Senioren brauchten sich nicht mit Musik von Jugendlichen zu beschäftigen oder für Leute ohne Schulabschluss sei höhere Mathematik zu schwierig. Tatsächlich wird sonst überall akzeptiert, dass manchen die Voraussetzungen für bestimmte Gebiete fehlen. Warum sollte das nur im Fall der Kunst anders sein? Sofern ebendies behauptet wird, zeigt sich nochmals die Vereinigung von Kunstreligion und Sozialdemokratie: Für die Kunst wird ein absoluter, kein bloß relativer Wert reklamiert, sie wird zu etwas erklärt, das ausnahmslos für alle gut sein soll.“

Kunst ist für alle gut, genau wie Musik oder Tanz oder Literatur. Aber niemand wird gezwungen, sich mit ihr zu beschäftigen. Das ist für mich der große Irrtum in Ullrichs Polemik. Ich muss nicht ins Museum, aber wenn ich schon da bin, finde ich es nett, dass man mir verschiedene Angebote macht, mich mit den Inhalten auseinanderzusetzen.

Natürlich ist meine Erwartungshaltung als Kunstgeschichtsstudentin eine andere als die von vor 20 oder 35 Jahren. Vor 20 Jahren gab’s für mich die Impressionisten und fertig, mehr wollte ich gar nicht sehen, weswegen ich auch nicht mehr gesehen habe. Vor 35 Jahren allerdings haben mich meine Eltern von einem Museum ins nächste geschleppt, genau wie ins Theater und in die Oper und ins Ballett. Meine Eltern haben beide bereits mit ungefähr 16 Jahren angefangen zu arbeiten und hatten in ihrer Kindheit und Jugend keinen Zugang zu den ganzen kulturellen Einrichtungen, in die meine Schwester und ich dann mitgenommen wurden. Ich rechne es beiden bis heute sehr hoch an, dass es für mich nie eine Schwelle zu Kultur gab, über die ich mich nicht getraut habe. Ich kann mir aber vorstellen, dass es andere Menschen gibt, denen das nicht so geht. Was ist falsch daran, diese Menschen dort abzuholen, wo sie sind?

Es gibt ein Motto, das ich sehr mag, auch wenn es fies nach Kissenstickerei klingt: „Start where you are. Use what you have. Do what you can.“ Wenn du nichts mit Beuys anfangen kannst: Lies ein Buch. Oder geh einfach mal gucken. Oder frag im Museum, ob es speziell dafür Führungen gibt. (Und hoffe dann darauf, dass du kein Werk von ihm nachbauen musst.) Ich kann wirklich überhaupt nichts Schlechtes daran sehen, wenn verschiedenen Menschen Kultur nahegebracht wird. Natürlich findet das auf einer anderen Ebene statt als das, was wir an der Uni machen. Aber das ist doch der Witz an der Sache: Die Uni macht ihr Ding und Museen machen ein anderes.

Ich gebe Ullrich völlig recht, wenn er sich gegen eine Banalisierung von Kunst zur Wehr setzt und eine gewisse Erwartungshaltung an Kunstvermittlung hat. Aber nochmal: Sich generell gegen Kunstvermittlung auszusprechen – und das ist für mich eher der Tenor seines Artikels – halte ich für höchst arrogant.

Edit, 13.4.: Auf Let’s talk about arts diskutiert Ullrich in den Kommentare mit und erklärt unter anderem, dass die olle Überschrift nicht von ihm ist.

Kunstkataloge online

Open Culture weist auf zwei Museen hin, die einen Berg von Katalogen online und umsonst zum Lesen (sowie teilweise zum Download) anbieten. Das passt zu meiner derzeitigen Vorlesung „Amerikanische Kunst nach 1945“ hervorragend.

Hier geht’s zum Guggenheim-Museum, bei dem man 65 Kataloge online lesen kann. Bei Archive.org findet man die Schätze auch zum Runterladen.

Und im Metropolitan warten ganze 394 Kataloge auf euch.

Vielen Dank an Schneefreundin, die mich per Twitter auf diese Schätze aufmerksam gemacht hat.

Kunst gucken: Sprengelmuseum Hannover

Als übermotivierte Studentin und brave Tochter dachte ich mir, fährste doch mal wieder nach Hannover, guckst dir ein Museum an und besuchst danach Mütterchen und Väterchen. Angerufen, Pläne verkündet – und dann etwas zusammengezuckt, als Mütterchen meinte: „Ach, da komme ich doch einfach ins Museum mit! Dann kannst du mir was erklären.“

Ich überlegte noch, ob ich schüchtern einwenden sollte, dass ich nach zwei Semestern gefühlt gar nichts weiß – vor allem nichts über das 20. Jahrhundert –, merkte dann aber selbst: Nee, stimmt nicht. Ich weiß schon ne Menge. Im Vergleich zum großen Ganzen natürlich gar nichts, aber wie ich schon beim letzten Kunsthallenbesuch schrieb: Ich gucke anders. Mal sehen, ob mein Mütterchen davon profitieren könnte.

Das Sprengelmuseum kenne ich noch aus der Zeit, in der ich in Hannover gewohnte habe, aber mein letzter Besuch müsste ungefähr 20 Jahre her sein. Ich erinnerte mich aber gut an die Räume von James Turrell und deswegen ging’s dahin auch zuerst.

Mein Lieblingsraum ist einer, an dem man sich mit einer Hand an einem Handlauf festhalten sollte, mit der anderen kann man an der Wand langstreichen, und dann geht es wenige Meter im Zickzackkurs in einen völlig verdunkelten Raum. Schon im Gang wird das Licht sehr schnell von diffus zu stockfinster, bis man sich im Raum links und rechts vom Gang zu zwei Stühlen getastet hat und Platz nimmt. Und dann sitzt man da und starrt ins Nichts. Oder versucht zu starren, denn man sieht eben – nichts. So eine komplette Finsternis kenne ich sonst nicht; von irgendwoher kommt immer ein Lichtschein, sei er auch noch so schwach, aber hier ist es schlicht schwarz. Man kann die Größes des Raums nicht einschätzen, auch wenn er nicht groß sein dürfte, die Stimmen hallen nicht, wobei die Wände, wie ich hinter mir ertaste, mit Stoff bespannt sind, der Geräusche dämpfen dürfte. Der Witz an diesem Raum ist, dass die Augen sich nach einigen Minuten an die Finsternis gewöhnt haben und dann ein Licht vor dir sichtbar wird. Ich erinnerte mich an ein graues Rechteck, das ich beim letzten Besuch irgendwann ganz schwach und diffus vor mir sah. Dieses Mal sehe ich aber ein Liniengewirr, und ich weiß nicht, ob ich mich schlicht an Quatsch erinnere, sich die Installation geändert hat oder mein Gehirn meinen Augen etwas vorgaukelt. Das graue Rechteck erscheint jedenfalls nicht. Meine Mutter sieht auch Linien, aber erst, nachdem ich davon gesprochen hatte. Ich überlege kurz, mein iPhone zu zücken und die Taschenlampe anzuwerfen, will mir den Raum aber auch nicht ruinieren. Denn ich mag das Gefühl sehr gerne, mal kurz das eigene Sensorium ausgeknipst zu bekommen.

Wir tasten uns wieder aus dem Raum heraus und gehen in den nächsten, wo eine helle Installation vor einer Wand zu schweben scheint. Wenn man länger hinschaut, weiß das Gehirn nicht mehr, was Licht und was Wand ist bzw. es kann sich nicht mehr entscheiden, ob da jetzt wirklich eine Wand ist oder nur Licht. Auch sehr lustig, wobei ich diesen Raum deutlich bunter in Erinnerung hatte. Ich gehe in 20 Jahren noch mal gucken, mal sehen, was dann passiert.

Das Haus hat keinen roten Faden, an dem man sich durch die Jahrzehnte hangelt, man kann irgendwo anfangen. Wir starten mit der Kunst nach 1945. Gleich im ersten Raum hängen einige Dubuffets, die ich inzwischen erkenne, wie ich mich innerlich piepsend freue. Mein Liebling ist die La voiture princière von 1961, an der ich den Bruch zwischen Bildtitel und Bildinhalt mag. Der „fürstliche Wagen“ ist ein Renault, die Figur, die darin sitzt, scheint mir ein gut gelaunter Mensch zu sein, der unadlig zur Arbeit fährt und zum Radio mitsingt anstatt Staatsgeschäften nachzugehen. In meiner Badewanne bin ich Kapitän. Und wenn dieses Bild etwas ganz anderes aussagen soll, ist mir das gerade egal, denn zum ersten Mal überlege ich nicht, ob meine Deutung wohl richtig ist, sondern ich nehme sie so hin. Wenn ich irgendwas in den letzten zwei Semestern Kunst und Musik gelernt habe, dann: Wenn du deine Meinung belegen kannst, dann stimmt die. Und so stehe ich nicht zögerlich und fragend vor einem Bild wie früher, sondern erzähle mir selbst (und Mama), was ich sehe. Und dann passt das. Toll.

Mein zweiter Liebling in diesem Raum ist Jean-Paul Riopelles Bei Nacht (Nuitamment) von 1956. Von dem Mann hatte ich noch nie gehört, will jetzt aber dringend mehr von ihm sehen. Wie bei Bildern von van Gogh kommt einem hier die Farbe entgegen, in so dichten Lagen ist sie auf die Leinwand verteilt, man kann das Werkzeug erkennen, das zum Verteilen benutzt wurde, zum Schichten und Kanten. Aber wo bei van Gogh jeder Pinselstrich Schmerz verrät, spürt man hier Dynamik und Kraft, Vorankommen, Bewegung. Mich hinterlässt das Bild trotz seiner Spannung absolut ruhig, so als ob die laute Großstadt mit ihren Neonlichtern, Spiegelungen und Farbkonstrasten kurz angehalten wurde, um sich mir in ihrer schillernden Schönheit zu präsentieren. Sobald ich mich wegdrehe, wird sich das Bild bestimmt ändern.

Der nächste Raum gehört Horst Antes. Hier hängen mehrere Figuren von ihm, die mir in ihrer schlichten Farbigkeit und Körperlichkeit sehr gefallen. Die Google-Bildersuche spuckt, wenn ich richtig geguckt habe, kein einziges der Bilder aus, die hier hängen – sie haben weniger Konturen, sind flächiger, weniger konkret als das, was man sofort mit Antes’ Namen verbindet. Die FAZ schreibt sehr schön über den Herrn, und seit dem Artikel weiß ich auch, was ich mir nächste Woche beim Spontanbesuch in Berlin angucke.

Ich entdecke die seltsamen Kompositionen von Alfred Manessier und Julius Bissier für mich, vertiefe mich in Rubernos von Emil Schumacher und kann dann mal wieder vor Mama ein bisschen Wissen heucheln, indem ich ihr das Blau von Yves Klein zeige. An seinem Werk Victoire de Samothrace von 1962 kann ich auch gleichzeitig mein bisheriges Wissen über Denkmäler abrufen und ihr erklären, was die Siegesdame alles nicht ist.

Im gleichen Raum wie Klein stehen auch einige Werke von Niki de Saint Phalle, die man als Hannoveranerin natürlich durch die Nanas kennt. So gerne ich diese Skulpturen mag – sonst kann ich mit ihrem Werk eher weniger anfangen. Auch wenn ich ihr Selbstporträt mit den Haaren aus Kaffeebohnen durchaus charmant fand. Neben de Saint Phalle ist hier aber auch einiges von Dieter Roth zu bewundern, den ich persönlich lieber mag. An seiner Ersten Kubistischen Geige von 1984/1988 kann ich Mama ein bisschen was über den Kubismus erzählen, kriege den Bogen (Bogen, haha) zum Roth’schen Werk aber nur durch die Farbigkeit hin. Im Geigenkasten liegt ein Foto eines kubistischen Bilds (ich habe mir nicht gemerkt, welches), das genau in den Farben gestaltet ist, mit denen Roth seine Geige verziert.

Nach ein bisschen Pop-Art von Warhol (Flash), Lichtenstein (Two Paintings/Alien) und Lindner (New York City III) kommen dann die ersten Installationen, unter anderem von Nauman und Franz Erhard Walther, dessen Mit sieben Stellen und Mantel mich sehr beeindruckt hat. Es besteht aus einem beigefarbenen Stoffhintergrund, auf dem sich weitere Stoffbahnen befinden. Ein Mantel aus dem gleichen Stoff deutet eine durchschnittliche menschliche Größe an. Orangefarbene, grüne, braune und rote Stoffteile umschließen Raumteile oder zeigen Verläufe von Raum auf, zwischen ihnen kann man imaginäre Linien ziehen und sich das Werk so erschließen. 18 Zeichnungen verdeutlichen die Gedankengänge, die hinter dem massiven Werk stecken, aber sie sind keine Gebrauchsanweisung. Es ist ein Spiel mit Größe und Körperlichkeit, mit Maßstäben und Erwartungen. (Oder was ganz anderes, aber das war’s für mich.) Wie ich schon bei Beuys im Lenbachhaus in München überrascht gemerkt habe: Die moderne Kunst hat sich an mich rangewanzt, und ich kann soviele Raffael-Bücher kaufen wie ich will, ich kann mich nicht mehr wehren.

Aber ein bisschen in die Vergangenheit darf ich schon noch schweifen, denn im Sprengelmuseum hängen auch die Neue Sachlichkeit, ein bisschen Kubismus und Futurismus und direkt dahinter (oder davor, je nachdem von wo man kommt) meine Lieblinge von der Brücke.

In der Neuen Sachlichkeit sind mir erstmals Grethe Jürgens und Ernst Thoms aufgefallen. Zwei Räume weiter konnte ich dann wirklich mal was erklären anstatt nur rumzumeinen, denn dort hängen ein paar Picassos gegenüber von Boccionis A strada entra nella casa von 1911. Das ist dort wirklich bilderbuchmäßig und man kann prima die Unterschiede dieser beiden Stilrichtungen erörtern und warum Bilder, die zur gleichen Zeit entstanden sind, so unterschiedlich aussehen.

Noch ein Raum für Picasso, durch den ich zugegebenermaßen etwas durchgesprintet bin, denn ich konnte langsam nichts mehr sehen. Den armen Emil Nolde habe ich auch nur gestreift, aber dafür konnte ich dann etwas länger bei meinem Liebling Kirchner rumstehen, der sich seinen Raum natürlich mit den Brücke-Kumpels Müller und Schmidt-Rottluff teilt, genau wie in der Hamburger Kunsthalle. Lustigerweise gefielen mir hier die Schmidt-Rottluffs besser als in Hamburg, während Herr Kirchner mich etwas underwhelmte. Aber im nächsten Raum konnte ich mich zum Ausgleich über diverse von Jawlenskys freuen. Mama freute sich über Macke und Marc (mal wieder Pferde. Ich kann diese Pferde nicht mehr sehen), während ich endlich die Klappe halten konnte.

Ich habe mich darüber gefreut, dass ich doch schon mehr wusste als ich dachte, aber ich habe auch gemerkt, dass ich lieber alleine in Museen rumlaufe. Kein schlechtes Gewissen, weil man statt drei Minuten fünfzehn vor einem Werk stehenbleiben will (die Zeit hätte ich mir gerne bei Riopelle und Walther gegönnt), und auch keins, weil man an manchen Bildern einfach vorbeirennt. Wenn ich alleine gewesen wäre, wäre ich kurz zum Kaffeetrinken rausgegangen, hätte meine Füße in den Maschsee gehalten und dann doch eine zweite Runde gedreht bzw. mir den Rest angeguckt, den wir dieses Mal nicht geschafft haben. So ist mir erst beim Rausgehen aufgefallen, dass ich den Merzbau gar nicht gesehen habe, in den ich als Kind sogar noch reinklettern durfte. Ich habe dieses Mal auch gemerkt, dass ich die Sache ernster nehme als sonst. Wo ich sonst einfach nur gucke, um meine innere Bildersammlung laaaangsam zu ergänzen, habe ich dieses Mal an vielen Bildern versucht, als angehende Kunsthistorikerin draufzugucken – also so, als ob ich ein Referat halten oder eine Hausarbeit schreiben muss. Ich erzähle mir in allen Einzelheiten, was ich sehe, welche Farben, in welcher Anordnung, in welchem Auftrag, wo sehe ich Konturen, wo erschließen sich mir Zusammenhänge, welche inneren Dynamiken spüre ich bzw. wo kann ich sie am Bild nachvollziehen, so dass aus ihnen mehr wird als nur ein diffuses Gefühl. Ich versuche, ein Bild zu erkennen und es nicht einfach so hinzunehmen. Und das kostet halt Zeit, und es ist ein bisschen anstrengend. Aber – natürlich – auch ganz großartig.

PS: Dieser Eintrag ist so bilderarm, weil man ü-ber-haupt nicht fotografieren durfte. Direkt hinter der Kasse hängt schon ein Riesenschild, das von Copyright redet und dass man in die Hölle kommt, wenn. Also habe ich, wie immer, nur die Schilder fotografiert, auf denen die KünstlerInnennamen und die Werkdaten stehen, weil ich zu faul bin, mir das aufzuschreiben. Aber: Selbst das darf man nicht. Als ich darüber quengelig twitterte, kam von @ishtar noch die Krönung: „Geht noch besser. Im Haus von Georgia O’Keeffe ist auch Zeichnen und handschriftliche Notizen machen untersagt.“ Pffft.