Was Eva Hesse mit dem Typ vorgestern in der U-Bahn zu tun hat

Eine meiner ersten richtigen Ideen für die Bachelorarbeit, die im nächsten Semester ansteht, war, über Eva Hesse und Francesca Woodman zu schreiben. „Richtig“ im Sinne von: mehr als ein Geistesblitz oder ein flüchtiger Gedanke, schon eine Grundidee, von der ich wusste, dass sie über 60.000 Zeichen tragen würde und mich vor allem sehr interessieren würde. Ich wollte mich mit der Rezeptionsgeschichte der beiden Künstlerinnen auseinandersetzen – also nicht vornehmlich mit ihren Werken, sondern eher damit, wie die Gesellschaft, die Kunstkritik und vor allem die Nachwelt mit den beiden und ihrem Vermächtnis umgegangen ist. Sowohl Hesse als auch Woodman sind jung gestorben und ihnen haftet etwas Tragisches an: Hesse starb an einem Gehirntumor mit 34 Jahren, Woodman verübte mit 22 Jahren Selbstmord. Je länger ich mich mit den beiden Frauen auseinandersetzte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass ihre Werke stets dadurch verschleiert wurden, dass die Künstler a) weiblich waren und b) man immer dieses wohlig-gruselige Gefühl mit ihnen verbindet. Kann man auf die Werke schauen, ohne die Biografie im Hinterkopf zu haben? Soll man das überhaupt? Oder soll man genau das nicht?

Wie wäre es, wenn beide männlich gewesen wären? Woodman setzt ihren als weiblich wahrgenommenen Körper fotografisch in Szene und zwingt uns als Publikum, unsere Wahrnehmung eines weiblichen Körpers zu überprüfen. Wie würden sich ihre Werke anfühlen, wenn ein schmaler, junger Mann sein Verschwinden inszeniert hätte, sein Aufgehen in der Umgebung, sein Nicht-Sichtbar-Sein-Wollen? Ist das überhaupt ein Sujet, das in männlicher Kunst vorkommt? Gibt es männliche und weibliche Kunst? Oder gibt es nur Werke, denen wir weibliche und männliche Klischees einschreiben? Hätte die Kunstkritik im Werk eines männlichen Künstlers den Wunsch nach einem Schutzraum gelesen wie bei Hesse?

Dass ich selbst nicht frei von solchen Gedankengängen bin, habe ich beim Fehlfarben-Podcast über Florine Stettheimer gemerkt. Hat die Künstlerin von mir schon im Vorfeld Bonuspunkte bekommen, weil sie weiblich ist? Mochte ich die Ausstellung, weil sie eine Lebenswirklichzeit nachzeichnet, in der ich mich wiederfinde, oder will ich mich bewusst in ihr wiederfinden? Habe ich mir selbst eine Echokammer und eine Filterblase gebaut?

Ich verwarf die Arbeitsidee wieder, habe aber zum wiederholten Male gemerkt, dass ich mich lieber mit der Rezeption oder dem Umgang mit Kunst befasse als mit der Kunst selbst. Ich werde anscheinend eine Meta-Kunsthistorikerin. (Verdammtes Internet.)

Trotzdem lässt mich Hesse nicht los. In der Pinakothek der Moderne bin ich sehr gerne bei den Minimalisten und immer dann vermisse ich ihren Post-Minimalismus noch mehr. Ich mag an ihren Werken das minimalistische Beharren auf Wiederholung, das Verwenden von modernen Materialien, die Auseinandersetzung mit dem Raum. Aber noch mehr mag ich, dass man an ihren Werken eine menschliche Handschrift wahrnimmt. Natürlich weiß ich, dass Donald Judd seine Metallboxen nicht durch Zauberei übereinander gestapelt hat, sondern vermutlich mit Zollstock und Nägeln, und natürlich weiß ich, dass Dan Flavin seine Leuchtröhren anfassen musste, um sie neben- und übereinander anzuordnen. Aber das sehe ich nicht. Ich sehe kühle Perfektion und das mag ich. Aber noch mehr mag ich die warme Unperfektion Hesses, die geschwungenen Linien in ihren Körpern, das kleine Abweichen von der Präzision, dass aus Geraden Wellen werden und aus Symmetrie ein Ungleichgewicht.

Wahrscheinlich mag ich deshalb auch die Romanik lieber als die Gotik. Die Gotik will mich beeindrucken mit ihrer übermenschlichen Größe, ihrem göttlichen Licht, ihrer (in der Spätgotik) perfekten Wiedergabe des menschlichen Antlitzes in Stein. In der Frühgotik suchten die Bildhauer noch nach dieser Perfektion, wie man zum Beispiel in Chartres sehen kann. Und in der Romanik noch mehr – wobei ich mir immer noch nicht sicher bin, ob eine lebensechte Darstellung überhaupt gewünscht war. Ich will inzwischen glauben: nein, war sie nicht. Ich bin sehr fasziniert von den Kapitellen in St. Lazare und dem Tympanon, das Eva zeigt. Überhaupt nicht perfekt, wenn man „perfekt“ als „naturgetreue Wiedergabe“ ansieht. Aber genau deshalb sehe ich es so gerne.

Überhaupt: sehen. Ich glaube inzwischen, dass mich sowohl mein jahrelanger intensiver Filmkonsum als auch, wer hätte es gedacht, die Arbeit in der Werbung ziemlich gut auf mein Studium vorbereitet haben. Ich habe mir beim Ansehen von Filmen unbewusst ein visuelles Vokabular zusammengebastelt, auf das ich schon in der Werbung zurückgreifen konnte, wenn es um neue Looks für Autokataloge ging, auch wenn das natürlich eher der Job der ArterInnen war. Und ich habe durch die Werbung gelernt, nach dem Besonderen Ausschau zu halten, dem Einzigartigen – ich kann um die Ecke denken, um Dinge zu finden, die bisher niemand vor mir gefunden hat.

Ich merke, dass ich Bildwerke und Skulpturen ähnlich angehe wie ich früher Filme geschaut habe: mit dem inneren Wunsch, begeistert zu werden. Das mag erstmal kein wissenschaftliches Herangehen sein, dieses unkritische „Mach was mit mir“, aber ich behaupte, es wird dem Werk gerecht. Denn kein Bild wurde gemalt, damit ich als Studentin missmutig draufgucke; Bilder wurden gemalt, um zu begeistern, zu faszinieren, aufzuwühlen, zu dokumentieren, zu verführen, sie sollen Emotionen wecken und erst danach vielleicht ein Subjekt für eine kritische Auseinandersetzung sein. Ich will es mir auch gar nicht abgewöhnen, emotional an Dinge heranzugehen. Ich will in eine Kirche gehen und staunend mit offenem Mund in Richtung Chor blicken, ich will in einem Museum fröhlich sein, erstaunt, aufgewühlt, ich will auf Werke unmittelbar und unverfälscht reagieren anstatt sie blasiert unter ein Mikroskop zu schieben. Dann gucke ich mir an, warum ich wie reagiert habe und nähere mich dem Werk so auf eine Weise, wie es sonst niemand kann. Und wenn ich dann durch meine individuelle Reaktion etwas an das Werk herantrage, was vorher noch nicht da war, dann, glaube ich, könnte aus mir eine ganz passable Kunsthistorikerin werden. (Oder ein total emotionales Weichei, das vor jedem Lehmbruck rumflennt. Wir werden sehen.)

Auf keine Filmkritik habe ich so viele Reaktionen bekommen wie auf Scorseses The Aviator von 2005. Die meisten Mails zogen sich an einem Detail hoch, über das ich einen ganzen Absatz lang schreiben musste, weil es mich so fasziniert hat: die rasiermesserexakt geschnittenen Haare von Leonardo di Caprio. Das ist auch das einzige, an das ich mich aus dem Film erinnere, das scheint mich wirklich mitgenommen zu haben. Aber wenn ich mir die Kritik nochmal durchlese, erkenne ich, dass ich schon damals eher auf Bilder als auf Handlung geachtet habe. Und ich muss immer an diese Kritik und an Leos Haare denken, wenn ich in der U-Bahn stehe und Leute angucke.

Ich sehe gerne das Menschliche in der Kunst, das Unperfekte. Ich lasse mich überwältigen und reagiere erst danach objektiv auf mein subjektives Empfinden. Und weil ich anscheinend nicht genug davon habe, mir Kunst in Museen oder Vorlesungen anzuschauen, sehe ich Menschen inzwischen wie Kunst an. Ich lese in der U-Bahn nicht mehr, ich starre stattdessen Leute an.

Mir fällt immer ein Detail auf, das mich dazu bringt, mir den Rest anzuschauen. Mal ist es eine besondere Statur, ein Mensch, der besonders raumgreifend steht oder, genau das Gegenteil, am liebsten verschwinden möchte wie Francesca Woodman. Ich schaue mir Kleidung an, ihre Farbe, vor allem ihre Stofflichkeit, ich fühle mich bei teuren Mänteln an Tizian erinnert, bei jedem Hijab denke ich an Rogier van der Weyden und ich verfluche Multifunktionsjacken, weil sie keine Stofflichkeit mehr besitzen, sondern aussehen wie Plastik. Ich schaue auf die Wirkung von Menschen, ich achte darauf, ob sie selbst darauf achten, eine Wirkung zu haben oder ob sie selbstvergessen in der Gegend rumstehen, was sie für mich deutlich attraktiver macht. Ich schaue mir Schmuck an, Frisuren, Tücher, Schuhe. Und ich schaue in Gesichter, suche nach Narben, Gesichtsausdrücken, Regungen, die in mir etwas auslösen. Ich sehe den ganzen Tag Perfektion und Unperfektion, Menschliches und von Menschen gemachtes, Kunst und alles, was ich für Kunst halte. Alles passt zusammen, weil ich es passend mache, weil ich es individuell rezipiere und mir danach über diese Rezeption Gedanken mache. Und weil ich keine Arbeit darüber schreibe, ist es ein Blogeintrag geworden.

Kunst gucken: Eva Hesse/Gego, Kunsthalle Hamburg

Es gibt ein Gefühl, das ich bisher nur nach aufwühlenden Kinofilmen oder Opernaufführungen kannte; wenn ich aus dem dunklen Zuschauerraum, in dem ich kurz Teil einer anderen Welt war, wieder hinaustrete und die Realität vor den Kopf geknallt kriege. Das Gefühl, diese Realität sofort wieder von mir wegstoßen, sie von mir abwischen zu wollen in ihrer Hektik, Lautstärke, dummen Nervigkeit. Dieses Gefühl kenne ich jetzt auch nach einem Ausstellungsbesuch.

In der Kunsthalle bzw. der Galerie der Gegenwart läuft noch bis zum 2. März eine Doppelausstellung von Eva Hesse und Gego. Zusätzlich ordnet die dritte Ausstellung Serial Attitudes die beiden Künstlerinnen in ihr zeitliches und künstlerisches Umfeld ein, was den Besuch perfekt macht. Ganz simpel ausgedrückt: Wenn man sich den ersten Stock und die Serial Attitudes anguckt, sieht man sofort, was an Hesse und Gego so besonders ist. Das heißt, man braucht kein Vorwissen und keine drei Semester Kunstgeschichte, sondern nur einen aufmerksamen Blick und ein bisschen Zeit. Wobei ich trotzdem ganz dankbar für die drei Semester Kunstgeschichte war, denn so konnte ich bei Serial Attitudes wieder die ganze Zeit innerlich rumquietschen, kenn’ ich, kenn’ ich, ha! Und weniger quietschig: Kannste dir gleich alles für die Klausuren im Februar über amerikanische Kunst und Ausstellungskonzepte merken.

Ich habe im dritten Stock mit Hesse angefangen. Das erste Objekt, um das ich ewig rumgeschlichen bin, war Accession III (1968), ein Würfel aus Glasfaser, Polyesterharz und Kunststoff, der in einem Raum stand mit Accretion (1968) und Repetition Nineteen III (1968).

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Eva Hesse, „Accretion“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 50 Röhren zu je 147,5 x 6,3 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo/Niederlande.
Foto: Abby Robinson, New York
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Dass die drei Werke in einem Raum stehen, fand ich sehr schön, denn diese Aufstellung erinnert an die einzige Einzelausstellung, die Eva Hesse in ihrer kurzen Lebenszeit in den USA hatte: In der Fischbach Gallery in New York waren 1968 genau diese Werke ebenfalls in einem Raum versammelt, wenn auch in leicht anderer Anordnung. Aber das ist nur ein nettes Kopfnicken – was viel spannender ist, sind die drei Objekte.

Über Accession III habe ich mich gefreut, weil ich eine Variante, Accession II, schon in einer Vorlesung gesehen hatte. Mal wieder der Gemeinplatz: Bilder und Skulpturen direkt vor der Nase sind was anderes als Bilder und Skulpturen per Powerpoint oder Buch. Ich mochte die Materialität, den Kontrast zwischen den runden, weichen Röhrchen und den klaren, harten Kanten, die sie begrenzen. Noch besser gefallen hat mir allerdings Accretion, das schlicht durch seine Größe beeindruckt. Das sieht man auf dem Detailfoto leider nur im Ansatz, aber die 50 Röhren nehmen eine gesamte Wandlänge ein. Man kann ein, zwei, fünf Meter zurückgehen und das üppige Werk auf sich wirken lassen. Mir hat es gleichzeitig eine positive Verspieltheit als auch eine tiefe Ruhe durch seine Schlichtheit vermittelt. An den beiden Exponaten sieht man auch gut den Unterschied zwischen Hesses Postminimalismus und dem Minimalismus, dem man im ersten Stock begegnet. Wo der Minimalismus meist streng und gerade daherkommt und im Hinterkopf mathematische Formeln oder absolute Symmetrie mit sich rumschleppt, bricht der Postminimalismus hier und da ein Eckchen ab, nimmt es mit den Abständen zwischen den Einzelteilen des Objekts nicht so genau, nutzt weichere Materialien oder sichtbare Handarbeit, kurz: bringt wieder etwas Menschlichkeit in die immer noch klaren Konstrukte.

Das einzige, was an dem Raum ein winziges bisschen gestört hat, war die konsequente Aufmerksamkeit des Wachpersonals. Normalerweise gehen die AufseherInnen netterweise aus den Räumen, wenn man alleine reinkommt oder wenden sich ab, damit man sich nicht so beobachtet fühlt. Das Dumme an diesem Raum – was gleichzeitig das Tolle ist –: Die Exponate sind nicht abgesperrt, kein Seil oder Verglasung stört den unmittelbaren Kontakt zwischen BetrachterIn und Kunst. Das ist wunderbar, bedeutet aber auch, dass die AufseherInnen dafür sorgen müssen, dass man nicht zu nah rangeht. Um mich nicht ganz so doof zu fühlen, habe ich die Dame einfach mal angesprochen, ob sie gerne hier steht oder lieber drüben bei den alten Meistern. Sie meinte freundlich, dass sie die gegenständliche Kunst lieber möge, weil sie „das hier“ alles nicht verstehe. Da ist mir wieder aufgefallen, dass mir mein Studium ein weiteres großes Geschenk gemacht hat: Ich habe mich schon länger davon verabschieden können, irgendwas an der modernen Kunst verstehen zu wollen. Ich kann sie mir inzwischen einfach anschauen, ihre Konzepte würdigen und vor allem gucken, was sie mit mir macht. Meiner Meinung nach ist das die Triebfeder für Kunstgucken: Was passiert mit mir, in mir, wenn ich mich mit einem Objekt konfrontiere? Eigentlich genau das gleiche Motiv wie für einen Besuch im Theater oder der Oper, bei der man ja eh meist die Stücke kennt – und trotzdem sind sie jedesmal anders, und ich komme jedesmal anders aus ihnen heraus.

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Eva Hesse, „Repetition Nineteen III“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 19-teilig, je 48,3 x 27,9 cm (Durchmesser), The Museum of Modern Art, New York.
Foto: The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Meine liebste Skulptur gibt’s leider nicht als Pressefoto: No title (Seven Poles) von 1970, das einen Raum fast für sich alleine hat. Man kommt in den Raum hinein und hat dementsprechend erstmal eine Perspektive vorgegeben, aus der man sich das Werk betrachtet. Mein Kopf hatte sich bis hierhin brav zurückgehalten mit Interpretationen oder Assoziationen, aber hier klickte sofort was im Hirn und ich bekam die Ansage: Sieht aus wie Beine. Dagegen konnte ich dann auch nichts mehr machen, ging um das Werk herum und bemerkte, dass es sich gefühlt bewegte! Ich konzentrierte mich auf ein „Beinpaar“ und guckte, wie sich die Formation der anderen „Beine“ entwickelte, wenn ich meine Perspektive änderte. Und wo ich zunächst dachte, das sind gelangweilte Menschen, die auf einer Cocktailparty eng beieinander stehen und Smalltalk machen, sah es von der anderen Seite aus wie hektisches Großstadtleben, wo man fast über den Haufen gerannt wird.

Was mir an Seven Poles noch aufgefallen ist, allerdings eher bedauernd, ist die Fragilität der Exponate. Was Hesse zu Lebzeiten so besonders gemacht hat, nämlich das Benutzen und Verarbeiten von neuen, modernen Materialien, wird ihrem Werk jetzt zum Verhängnis. Es vergilbt und bröselt, der Draht, der die „Beine“ bildet, scheint zu rosten. Ein paar Räume vor den Poles hing ein weiteres Werk, das mich lange fesseln konnte: Sans II, das aus fünf einzelnen Zellkästen besteht, die blöderweise sonst in fünf unterschiedlichen Museen hängen. Hier ist die Skulptur wieder vereint und beeindruckt, genau wie Accretion, durch ihre raumgreifende und raumdefinierende Größe. Durch die fünf unterschiedlichen Aufbewahrungsorte und -umstände ist es unterschiedlich stark nachgedunkelt, was den Zusammenhalt des Werks etwas stört, es aber gleichzeitig nahbarer macht. Es scheint ein Eigenleben entwickelt zu haben, einen Charakter – und man sieht ihm die Vergänglichkeit an. Ehe ich mich allerdings in morbide Gedanken vertiefen konnte, habe ich mich lieber an den Strukturen erfreut. Auch hier kann man die Handarbeit erkennen, die Hesse verrichtet hat, um industriellen Materialien eine emotional fassbare Form zu geben. Die Zellen sind nicht exakt rechtwinklig, sie scheinen auszufasern; die Linie, die ihre Fassung erzeugt, scheint zu vibrieren, es entsteht in der Mitte des Werks fast eine kleine Welle, der ich recht lange mit den Augen gefolgt bin. Genau wie bei Accretion habe ich Ruhe und Besinnung gespürt.

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Eva Hesse, „Sans II“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 96,5 x 218,4 x 15,6 cm (ein Element von fünf), Museum Wiesbaden.
Foto: Ed Restle, Museum Wiesbaden
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Gego ein Stockwerk tiefer hat hoffentlich etwas beständige Materialien verwendet, jedenfalls sieht das alles etwas zeitloser aus. Ihre Skulpturen bestehen aus Draht, Stahl, Aluminium – eigentlich hartes, kantiges Zeug, aber sie verwandelt es in filigrane Objekte, die wunderschön inszeniert sind. An einer Wand stand ein Zitat von ihr, das die Ausstellung „Line as Object“ gut zusammenfast: „There is no danger to get stuck, because with each line I draw, hundreds more wait to be drawn. That is the circle of knowledge with the ring around; you enlarge the inner circle and the outer one becomes greater without end.“ Den Satz habe ich natürlich sofort auf mich, mein Studium und meinen Wissendurst bezogen. War klar.

Ich habe mich bei ihr sehr auf die Formen konzentriert, die durch das Verbinden von Linien aus Stahl entstehen. Eins ihrer Werke, Tronco N. 5 von 1968, besteht nur aus Dreiecken. Ein paar Meter weiter steht ein anderer Stamm (Tronco 8 von 1977), der sich aber aus unterschiedlichen Formen zusammensetzt. Plötzlich taucht ein Fünfeck auf oder ein Vieleck, das den Blick auf das Innere des Stamms freizugeben scheint, obwohl der ja sowieso nie behindert ist.

Bei Hesse habe ich kaum auf das Umgebungslicht geachtet, hier ist es mir aufgefallen. Die Werke sind teilweise sehr exakt beleuchtet, stehen quasi im Scheinwerferlicht, während der Raum dunkler ist. Das hat mir persönlich sehr gefallen, und auch wenn ich kein Objekt vernünftig fotografiert gekriegt habe – die Raumatmo habe ich einfangen können. (Bei Hesse durfte man nicht fotografieren, in den anderen beiden Stockwerken schon.)

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Gego, „Tronco N. 8“/Detail (1977), Stahldraht, Bronze, Metallklammern, 150 x 70 cm, Fundación Gego Collection at the Museum of Fine Arts, Houston.

Der erste Stock mit den vielen Minimalisten ist, wie gesagt, eine wirklich gute Einordnung. Hier erfreute ich mich unter anderem an der Exaktheit von Donald Judd, dessen Boxen ich aus der Pinakothek der Moderne kenne, an den Lichtspielen von Dan Flavin und vor allem an einem Raum, in dem sich zwei Stoffskulpturen von Robert Morris und eine von Franz Erhard Walther versammeln. Die beiden Morris-Werke hängen an den Wänden und sind grau und schwarz, während die weißen Falttaschen von Walther den Boden bedecken. Ich mochte den Kontrast zwischen den beiden Aufbewahrungsorten, also der Wand und dem Boden, einmal klassisch, einmal modern, und das Farbspiel, das sich zwischen den Exponaten ergab.

Ich habe mich außerdem über ein Wiedersehen mit Bill Bollingers Pipe gefreut, das ich (natürlich mal wieder) von einer Folie kenne. In der Vorlesung über Ausstellungskonzepte sprachen wir über die Wundertüte When Attitudes Become Form (Bern 1969), in der unter anderem Morris, Bollinger und Eva Hesse zu sehen waren, wobei Pipe direkt neben Hesses Augment lag, das auch gerade in Hamburg zu sehen ist.

tl;dr
Bitte dringend alle drei Stockwerke angucken. Ich war wissenschaftlich beeindruckt und grönerig verzaubert.