Über Beuys

Armin Zweite über Voglio vedere le mie montagne (1971):

„[I]n ihnen[, den Gegenständen,] manifestiert sich eine Fülle komplexer Beziehungen, die Gestaltungsprinzipien thematisieren: das Offene und das Geschlossene, das Bearbeitete und das Unbearbeitete, Organisches und Anorganisches, Sichtbares und Unsichtbares (der Kasten enthält einen Fetzen gelben Tuchs und einen Knochen), Kristallines und Amorphes, das Aufgerichtete und das Liegende, Eckiges und Rundes usw. In solcher Anordnung, die immer wieder den Zufall unterläuft, erweist sich aufs neue die Meisterschaft von Beuys, selbst die obsoletesten und disparatesten Dinge durch Kombinationen und ausponderierte Zusammenstellung in ein Beziehungsgefüge zu rücken, das das krude Zeug nobilitiert, und zwar zunächst und vor allem durch formale und materiale Korrespondenz oder deren Verkehrung ins Gegenteil. Eine Regie wird spürbar, die Sperriges und Zartes, Voluminöses und Unscheinbares, Kompaktes und Filigranes, Festes und Weiches auf einen gemeinsamen Nenner bringt, insofern die Lebenswelt desjenigen zu spüren ist, der hier auswählte, veränderte, bearbeitete und arrangierte.

Aber dieser individuelle Horizont des Künstlers ist nicht das Entscheidende. Der Betrachter, ohne allein seinen Augen vertrauen zu wollen, nimmt die Besetzung und Artikulation des Raumes physisch wahr und ertastet gleichsam Differenzen von Oberflächen und Volumen, und er meint dabei einen prähistorischen Schauer zu verspüren, der dieses veraltete Inventar aus bürgerlichem Schlafzimmer und trister Werkstatt umwittert, dieses halb rätselhafte, halb vertraute Ambiente, dem er sich allenfalls durch eine brüchig gewordene Tradition verbunden weiß. Worauf Beuys hier anspielt, hat Walter Benjamin in seinem Passagenwerk so beschrieben, „daß zwischen der Welt der modernen Technik und der archaischen Symbolwelt der Mythologie Korrespondenzen spielen, … daß die Merkwelten sich immer schneller zersetzen und das Mythische in ihnen immer schneller und krasser zum Vorschein kommt …“ Zwar glauben wir zu kennen, was wir sehen, aber der Zusammenhang der Dinge, der einer eigenen Logik zu folgen scheint, läßt die Evidenz ins Rätsel umschlagen. So manifestieren sich in dem ausrangierten Zeug Momente von Trauer. Die aus ihren Funktionszusammenhängen gelösten Sachen werden in ihrer neuen Umgebung fremd und durch die Namensgebung zu Teilen eines dunklen Bildes. Aus der Lebenswelt eliminiert, beunruhigen die Dinge und offenbaren in der Reduktion auf ihr materielles Substrat einerseits und in der Spiritualisierung bzw. Verrätselung andererseits eine mythische Qualität.“

Zweite, Armin: „Prozesse entlassen Strukturen, die keine Systeme sind.“ Anmerkungen zu einigen raumbezogenen Arbeiten von Joseph Beuys, in: Bastian, Heiner (Hrsg.): Joseph Beuys. Skulpturen und Objekte, München 1988, S. 70/71.

Über Beuys

„Alle Rede im Sinne des „erweiterten Kunstbegriffs“ lief am Ende auf die Vorstellung von einer umfassenden schöpferischen Umgestaltung des Lebens hinaus: „Mein Begriff von Plastik bezog sich immer auf das Leben, auf das Gesamtkunstwerk, man kann auch sagen auf die menschliche Gesellschaft als Skulptur.“ Er[, Joseph Beuys,] sprach von der „Sozialen Skulptur“, die erst dann verwirklicht sei, „wenn der letzte lebende Mensch auf dieser Erde zu einem Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus geworden ist.“

Mit den 68ern und ihren Vorstellungen von der Veränderung der Gesellschaft konnte Beuys nicht viel anfangen, er wollte die Menschen ändern, nicht mit Mitteln des Klassenkampfes, sondern mit den Mitteln der Kunst: „Radikal gesagt, gibt es überhaupt keine andere Methode, die noch übrigbleibt, als die Kunst. Also werde ich der Kunst auch die zentrale Rolle einräumen.“

Der entscheidende Unterschied zu den verbalen Bekundungen anderer Künstler lag in dem Verlangen, nicht in erster Linie der eigenen Kunst die adäquate Grundlage zu schaffen und eine sinngemäße Rezeption zu ermöglichen, sondern von den großen Menschheitsfragen auszugehen, Lösungen weit über den Künstlerhorizont anzupeilen und in diesem Rahmen dann der eigenen Kunst einen festen Stellenwert einzuräumen. (…)

So wurde in den letzten Jahren noch einmal ganz deutlich, daß Zeichnen, Formen, Sprechen, Handeln – Praxis und Theorie – bei Beuys eine untrennbare, charakteristische Einheit bilden, wie auch Werk und Person, Auftritt und Leben bei ihm eine Einheit waren, die stets im Zeichen der verändernden Kunst stand. Daß er diese Einheit lebte, machte ihn zum Visionär, dem letzten Visionär in der Kunst des 20. Jahrhunderts.

Wo aber das Werk vom Charisma seines Schöpfers und von dessen Auftritten begleitet, wenn nicht entscheidend geprägt wird, stellt sich die Frage, wie das Werk nach dem Tod seines Schöpfers wirksam weiterexistiert. Die zeichnerischen, die skulpturalen, die installatorischen Werke bleiben. Die Aktionen aber sind vergangen wie alte Theaterinszenierungen, Dokumente sind an die Stelle des zentralen Werkkomplexes getreten, Vorstellungskraft hat die leibhafte Erfahrung zu ersetzen; die Rede findet nicht mehr statt, ist zur Schrift geworden; die Visionen lassen sich nicht authentisch fortentwickeln. Mit dem Künstler des erweiterten Kunstbegriffs scheint auch ein wesentlicher Teil seiner erweiterten Kunst dahingegangen. Geblieben ist der herkömmlich faßbare Teil, und der erscheint ohne die gestaltende Präsenz zwangsläufig in weniger lebhaftem Licht.“

Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert: Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, München 2010, S. 240/241 und 243.