Über die Rezeption

„Wir betrachten nicht das Bild, noch betrachten wir uns das Bild, sondern wir lassen den Eindruck zu, als betrachte es uns. Man könnte den Zustand als eine schwebende Illusion bezeichnen, in welchem Kunstwerk und Betrachter in einem spielenden Verhältnis stehen.

Aus diesem Grunde geht es mir nicht darum, einzelne Autoren der Kunstphilosophie oder der Kunsttheorie anhand einzelner Werke ausführlich zu interpretieren. Es geht nicht um die Rekonstruktion und Analyse der bekannten Thesen zwischen Kunstwerk und Rezipient. Auf dem höchsten Punkt der Rezeption wird der Rezipient im eingebildeten Zwiegespräch mit dem Bild beim Versuch, dessen stillschweigenden Anspruch wortlos zu entsprechen, zu einem (Mit-)Produzenten. Bereits an dieser Stelle sei vorweggenommen: Das Bild ist nie die Illustration eines Sinnes, der sich auch sagen und schreiben ließe. Das ästhetisch Bedeutende hat keinen Sinn, es gibt und bildet Sinn und macht Sinn für den Betrachter – oder auch nicht. Das Bild bleibt ohne eine Begründung im Inneren des Betrachters leer und ist ebenso auf die gesellschaftliche Vermittlung angewiesen.

Die Lust des ästhetischen Augenblicks hat in sich selbst die Bestimmung zur Genauigkeit des Gefühls und also zur Exaktheit der Phantasie. (…) Die unablässige Sehnsucht, dass die Bilder sprechen sollen, obwohl sie es zumindest mit der uns allbekannten Sprache nicht können und sie also schweigen und dennoch mehrdeutig sein können, ist bereits eine platonische Erfahrung. Auch die Sprache ist nicht einfach dazu da, Gedanken auszudrücken, sondern Gedanken zu ermöglichen, die ohne sie gar nicht existieren könnten (Bertrand Russell). Andererseits sagt ein Bild mehr als tausend Worte (Tucholsky). Lässt sich der Satz so wenden, dass zu sagen ist, ‚ein Bild sind tausend Worte‘?“

Obraz, Melanie: Das schweigende Bild und die Aussagekraft des Rezipienten in Bezug auf ästhetische und ethische Werturteile. Grundlagen für eine phänomenologisch ausweisbare Kunstphilosophie, Berlin 2006, S. 2–3.

Über Rezeption

„Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass das Kunstwerk im Gegensatz zur face-to-face-Kommunikation eine asymmetrische Kommunikation auslöst. Diese Feststellung ist eine relative, denn totale Asymmetrie kennt die Kommunikationstheorie nicht – immer muss ein Gegenüber anerkannt werden, immer muss ein gemeinsamer Bezugsrahmen angesprochen sein. Im Falle der ästhetischen Kommunikation erweist sich die relative Asymmetrie als Antrieb, den Betrachter nicht nur zu disponieren – durch äußere Vorgaben, deren Berücksichtigung vorausgesetzt wird –, sondern auch zu stimulieren, zu aktivieren, am Aufbau des Werks zu beteiligen. Dies geschieht durch die Art und Weise, wie der Betrachter an der innerbildlichen Kommunikation beteiligt ist. Genauer: Wie er an einer Kommunikation teilnimmt, an der er nur als Betrachter, nicht als Akteur beteiligt sein kann. Die innere Kommunikation, das, was wir häufig Darstellung, Komposition, Handlung nennen, besteht aus „Menschen, die sich Zeichen geben […], Dinge[n], die Zeichen sind […], Vorgänge[n], die selbst schon Kommunikation sind oder zumindest von Kommunikation begleitet werden oder aber der Gegenstand von Kommunikation sind, die von den Menschen im Bild gemacht wird.“(1) Im Unterschied zu den meisten Formen der Alltagskommunikation ist für die innerästhetische Kommunikation wesentlich, dass sie unter den Augen von Betrachtern stattfindet. „In das Medium sind bestimmte Formen eingelegt, die die Wahrnehmung der Zuschauer, die Weise, in der sie auf die innere Kommunikation schauen, organisieren; die innere Kommunikation wird präsentiert, und zwar so, dass sie nicht nur das bedeutet, was sie ohne Zuschauer für die beteiligten Akteure der inneren Kommunikation bedeuten würde, sondern dass sie eine zusätzliche Bedeutung hat, die gerade aus dem Umstand der Anwesenheit von Zuschauern resultiert.“(2)“

(1) Bitomsky, H.: Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit, Neuwied/Darmstadt 1972, S. 30.
(2) ebd., S. 105.

Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Belting, Hans u.a. (Hrsg.): Kunstgeschichte: Eine Einführung, 7. überarbeitete Auflage, Berlin 2008, S. 252/253.