Über Munch

„Wenn einer in Bildern denkt, wie Munch, der als Bestandteil dieses nordischen Geistesstroms durch Europa trieb, so verlangt das die Dämonisierung des Erscheinungsbildes der Natur durch die Fühlfähigkeit der menschlichen Psyche und das Ahnungsvermögen des Unbewußten. Munch malt also zum Beispiel keinen Jungmädchenakt, sondern malt „Pubertät“, weil sich das Modell durch die über den optischen Sinn hinaus angesetzten Tastfäden seiner Psyche veränderte und die Bildvorstellung auf diese Veränderung unbewusst reagierte. Er malt zum Beispiel keine Landschaft, sondern „Geschrei“, die Antwort seines Unbewußten auf das Panische der Schöpfung – „ich fühlte den großen Schrei durch die Natur“. Malerei ist ihm gar nicht punktuell auf „Natur“ und „Wirklichkeit“ bezogen. Seine Optik ist die des „zweiten Gesichtes“ und erspäht eine „zweite Wirklichkeit“, in der sich der eigentliche Vorgang des Lebens allein abspielt und den der Künstler mit durchlebt und abspiegelt. (…)

Schon in den Lehrjahren sah er Oberfläche und Symbol als eines. In einem frühen Tagebuch von Munch findet sich unter dem Datum von 1889 eine Eintragung, die die gleiche Sache ausdrückt nur einfacher, mehr vom Maler aus: „Es sollen nicht mehr Interieurs mit lesenden Männer und strickenden Frauen gemalt werden. Es müssen lebende Menschen sein, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Ich werde eine Reihe solcher Bilder malen: man soll das Heilige dabei verstehen.“

Das Heilige offenbart sich nicht im Präsens. „Ich sehe“ ist keine Bezeichungsart für eine Tatsache der Offenbarung. (…) Es braucht das Zeitmoment des „visionären“ Anwachsens von außen nach innen und wieder nach außen. Vergangenes und Künftiges durchdringen die Gegenwart und geben ihr Mehrdimensionalität, in der das Heilige aufscheint. Man „sieht“ den brennenden Dornbusch, aber man „sah“ Gott. Ein kleines Zeitmoment ist nötig, dies Anwachsen. Will man das Sichtbare transparent machen in der Hoffnung, ein Transzendentales durchschimmern zu sehen, so changiert die Wortformel aus dem Präsens heraus und heißt: „Ich sehe und erinnerte mich.“ (…)

[Er] suchte (…) neue Symbole, die er in Analogie zu einer fixierten Religiösität „das Heilige“ nannte. Aber der Mensch war allein, einzig in ihm konnte das „Heilige“ als Reflex von außen oder von innen aufleuchten. Kam der Anruf von außen, aus der Landschaft zum Beispiel, so leuchtete das „Heilige“ als das „Panische“ auf, dem zum Beispiel die Alten in der Mythologie der Naturgötter zur Figur verholfen hatten. Kam der Anruf von innen, vom Menschlichen außerhalb seiner reinen Erscheinung als „Natur“, so gewann das „Heilige“ Ausdruck in der Äußerungsgeste der Psychologie. Das Panische und das Pychologische, das sind die beiden Vorstellungsreflexe, mit denen Munch die Bilder fand, die er als Symbole des Daseins verstehen konnte.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 73–75.

Über Cézanne

„Bei Cézanne begann sich die Aufgabe der Malerei zu erweitern. Zu dem „biologischen“ Auftrag, etwas Sichtbares wiederzugeben, gesellte sich der neue geistige Auftrag, etwas überhaupt erst sichtbar zu machen. (…) Vermöge eines engen Zusammenwirkens von Auge und bildnerischer Intelligenz: „beim Malen gibt es zwei Dinge – das Auge und das Gehirn. Beide müssen sich gegenseitig unterstützen. Man muß an ihrer wechselseitigen Entwicklung arbeiten – am Auge mittels des optischen Studiums der Natur, am Gehirn mittels der logischen Entwicklung und Ordnung der künstlerischen Erlebnisse – sie schafft die Ausdrucksmittel.“ (…)

Cézanne verfügte sich in das Werk hinein. Er tat das mit einem ergreifenden Einsatz seines ganzen Menschentums. Von Anlage und Temperament ein ungestümer, ganz barocker Geist von einer erschreckend sinnlichen Wildheit, verfügte er sich unter die unerbittliche Disziplin seines Konstruierens; daraus kommt die zitternde Kraft seines Formgefüges. Er wob sein ganzes eigenes Sein dem Bildleib ein. Fortab sitzt das „Bild des Menschen“ im Bilde selbst, da hat er sich hineinverfügt, dort ist er aufzufinden. Die heute so beliebte Frage nach dem Menschenbild in der modernen Kunst, wenn man darunter das Erscheinungsbild, das Ikonographische versteht, zeugt von einem hilflosen Mißverstehen dieses Grundgedankens.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 38/39.

Über van Gogh

„Von seiner Kunsthandelstätigkeit kannte er sich in der Kunst gut aus. Nur die Neuesten, die Impressionisten, die kannte er noch nicht. Er setzte also bei Millet an, dort fand er den schweren, dunklen, festen Klang der Erde und die der Erde zugewandten Gesten in den Menschen. Ihn zieht das Sein der Dinge an, das Beredte ihres stummen Daseins. Als er 1882 das Landschaftsmalen zum erstenmal versucht, da denkt er gar nicht an Bild, Dekor oder Erscheinung, da kommt es ihm an „auf die ernorme Kraft und Festigkeit des Terrains“. Das war sichtbar zu machen. Und nun stürzt er sich mit dieser wilden, religiösen Inbrunst, die ihm immer eigen war, auf die Dinge. Nichts da von peinture und sorgsamem Umgang mit den Mitteln, Hauptsache blieb die Wahrheit von den Dingen. Da drückt er „Wurzeln und Bäume direkt aus der Tube und modelliert mit dem Pinsel. Ja, nun stehen sie, wachsen, wurzeln mit Kraft“. Wunderbare Einsichten kommen ihm da, Worte von tiefster Wahrheit, „wenn man wachsen will, dann muß man sich in die Erde senken“, schreibt er 1883 an Théo. Und so gräbt er sich ein, immer auf der Suche nach den Bildern, die in den Dingen und zugleich hinter ihnen liegen, die ihr Sein bestimmen, ihre ausgeformte Wahrheit. Und wie er sich in die Dinge gräbt, so gräbt er sich in die Gesichter der Elendsbauern um ihn, zeichnet wie besessen, um, wie er sagt, den „Typus“ zu finden, das, was hinter dem Einzelnen liegt, die große Maske des menschlichen Schmerzes.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 26.

Über Kunst nach den Weltkriegen

„Was aber sagte sie[, die Kunst,] nun selbst? Was ist festzustellen? Da ist einmal festzustellen, daß diese ganzen, von außen auf sie einwirkenden Ideen sie überhaupt nicht berührten. Ja, der [zweite Welt-]Krieg selbst und die Situation, die er hinterließ, hatten keinen oder nur einen sehr geringen Einfluß auf sie. Sie wirkten lediglich auf die psychologische Einstellung des Künstlers zur Gesellschaft und zu den Manifestationen des öfentlichen Lebens im negativen Sinn ein.

Vergleicht man diese Jahre mit denen nach dem ersten Weltkrieg, so ist die beharrliche Antwortlosigkeit des schöpferischen Menschen auf das Maßlose der Ereignisse im geschichtlichen Raum erstaunlich und für den inneren Wert dieser Ereignisse vernichtend. Noch der spanische Bürgerkrieg, als organisierter Angriff auf die menschliche Freiheit, hatte eine mächtige Resonanz in der westlichen Künstlerschaft gefunden; der zweite Weltkrieg konnte sie zu keiner Antwort mehr provozieren. Der künstlerische Mensch hatte den Krieg längst hinter sich gelassen, seine Gegenäußerung waren die eigenen Gebilde.

Der Künstler suchte im ersten Weltkrieg noch nach einem Sinn des Krieges und war geneigt, ihn in die Zukunft zu verlegen. Für Franz Marc, der vor Verdun fiel, war der Krieg ein Läuterungsvorgang, und er meinte, „ein Frühling der Kultur müsse der Monstrosität dieser Katastrophe folgen“. Die Briefe dieser ganzen Kriegsgeneration sind voll von Prophetien in die Zukunft hinein, „eine Erfüllung wird sein, irgendwann, in einer neuen Welt“ (Marc). Das Ende des zweiten Weltkrieges sah ein anderes Geschlecht – illusionslos, skeptisch, einsam, hart die Realitäten wertend und nur die Gegenwart und die menschliche Existenz in dieser anerkennend.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 423/424.