Über Cézanne

„Bei Cézanne begann sich die Aufgabe der Malerei zu erweitern. Zu dem „biologischen“ Auftrag, etwas Sichtbares wiederzugeben, gesellte sich der neue geistige Auftrag, etwas überhaupt erst sichtbar zu machen. (…) Vermöge eines engen Zusammenwirkens von Auge und bildnerischer Intelligenz: „beim Malen gibt es zwei Dinge – das Auge und das Gehirn. Beide müssen sich gegenseitig unterstützen. Man muß an ihrer wechselseitigen Entwicklung arbeiten – am Auge mittels des optischen Studiums der Natur, am Gehirn mittels der logischen Entwicklung und Ordnung der künstlerischen Erlebnisse – sie schafft die Ausdrucksmittel.“ (…)

Cézanne verfügte sich in das Werk hinein. Er tat das mit einem ergreifenden Einsatz seines ganzen Menschentums. Von Anlage und Temperament ein ungestümer, ganz barocker Geist von einer erschreckend sinnlichen Wildheit, verfügte er sich unter die unerbittliche Disziplin seines Konstruierens; daraus kommt die zitternde Kraft seines Formgefüges. Er wob sein ganzes eigenes Sein dem Bildleib ein. Fortab sitzt das „Bild des Menschen“ im Bilde selbst, da hat er sich hineinverfügt, dort ist er aufzufinden. Die heute so beliebte Frage nach dem Menschenbild in der modernen Kunst, wenn man darunter das Erscheinungsbild, das Ikonographische versteht, zeugt von einem hilflosen Mißverstehen dieses Grundgedankens.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 38/39.

Über van Gogh

„Von seiner Kunsthandelstätigkeit kannte er sich in der Kunst gut aus. Nur die Neuesten, die Impressionisten, die kannte er noch nicht. Er setzte also bei Millet an, dort fand er den schweren, dunklen, festen Klang der Erde und die der Erde zugewandten Gesten in den Menschen. Ihn zieht das Sein der Dinge an, das Beredte ihres stummen Daseins. Als er 1882 das Landschaftsmalen zum erstenmal versucht, da denkt er gar nicht an Bild, Dekor oder Erscheinung, da kommt es ihm an „auf die ernorme Kraft und Festigkeit des Terrains“. Das war sichtbar zu machen. Und nun stürzt er sich mit dieser wilden, religiösen Inbrunst, die ihm immer eigen war, auf die Dinge. Nichts da von peinture und sorgsamem Umgang mit den Mitteln, Hauptsache blieb die Wahrheit von den Dingen. Da drückt er „Wurzeln und Bäume direkt aus der Tube und modelliert mit dem Pinsel. Ja, nun stehen sie, wachsen, wurzeln mit Kraft“. Wunderbare Einsichten kommen ihm da, Worte von tiefster Wahrheit, „wenn man wachsen will, dann muß man sich in die Erde senken“, schreibt er 1883 an Théo. Und so gräbt er sich ein, immer auf der Suche nach den Bildern, die in den Dingen und zugleich hinter ihnen liegen, die ihr Sein bestimmen, ihre ausgeformte Wahrheit. Und wie er sich in die Dinge gräbt, so gräbt er sich in die Gesichter der Elendsbauern um ihn, zeichnet wie besessen, um, wie er sagt, den „Typus“ zu finden, das, was hinter dem Einzelnen liegt, die große Maske des menschlichen Schmerzes.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 26.

Über Kunst nach den Weltkriegen

„Was aber sagte sie[, die Kunst,] nun selbst? Was ist festzustellen? Da ist einmal festzustellen, daß diese ganzen, von außen auf sie einwirkenden Ideen sie überhaupt nicht berührten. Ja, der [zweite Welt-]Krieg selbst und die Situation, die er hinterließ, hatten keinen oder nur einen sehr geringen Einfluß auf sie. Sie wirkten lediglich auf die psychologische Einstellung des Künstlers zur Gesellschaft und zu den Manifestationen des öfentlichen Lebens im negativen Sinn ein.

Vergleicht man diese Jahre mit denen nach dem ersten Weltkrieg, so ist die beharrliche Antwortlosigkeit des schöpferischen Menschen auf das Maßlose der Ereignisse im geschichtlichen Raum erstaunlich und für den inneren Wert dieser Ereignisse vernichtend. Noch der spanische Bürgerkrieg, als organisierter Angriff auf die menschliche Freiheit, hatte eine mächtige Resonanz in der westlichen Künstlerschaft gefunden; der zweite Weltkrieg konnte sie zu keiner Antwort mehr provozieren. Der künstlerische Mensch hatte den Krieg längst hinter sich gelassen, seine Gegenäußerung waren die eigenen Gebilde.

Der Künstler suchte im ersten Weltkrieg noch nach einem Sinn des Krieges und war geneigt, ihn in die Zukunft zu verlegen. Für Franz Marc, der vor Verdun fiel, war der Krieg ein Läuterungsvorgang, und er meinte, „ein Frühling der Kultur müsse der Monstrosität dieser Katastrophe folgen“. Die Briefe dieser ganzen Kriegsgeneration sind voll von Prophetien in die Zukunft hinein, „eine Erfüllung wird sein, irgendwann, in einer neuen Welt“ (Marc). Das Ende des zweiten Weltkrieges sah ein anderes Geschlecht – illusionslos, skeptisch, einsam, hart die Realitäten wertend und nur die Gegenwart und die menschliche Existenz in dieser anerkennend.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 423/424.

Über Pop-Art und das Ende der Moderne

„Die sechziger Jahre waren ein Paroxysmus der Stile, in dessen Verlauf, so will mir scheinen – und auf dieser Grundlage sprach ich überhaupt vom „Ende der Kunst“ –, es allmählich, zuerst durch die nouveaux réalistes und dann durch die Pop-Art, klar wurde, daß Kunst im Vergleich zu den von mir „bloß reale Dinge“ genannten Objekten kein bestimmtes Aussehen aufweisen mußte. Um mein Lieblingsbeispiel anzuführen: Nichts braucht äußerlich einen Unterschied zwischen Andy Wahrhols Brillo Box und den Brillo-Kartons im Supermarkt zu markieren. Die Konzeptkunst hat gezeigt, daß ein Werk der bildenden Kunst nicht einmal ein greifbares visuelles Objekt erfordert. Das heißt, daß sich die Bedeutung von Kunst nicht mehr anhand von Beispielen lehren ließ. Es bedeutete, das Erscheinungsbild betreffend konnte alles Kunst sein und man mußte von der sinnlichen Erfahrung auf das Denken umschalten, um herauszufinden, was Kunst war. Kurz gesagt, man mußte sich an die Philosophie wenden. (…)

Erst als klar wurde, daß alles Kunst sein konnte, war philosophisches Denken über Kunst möglich. Das war der Auslöser für eine wirklich allgemeine Kunstphilosophie. Und die Kunst selbst? Wie stand es mit der „Kunst der Philosophie“ – um den Titel von [Joseph] Kosuths Essay [Art After Philosophy, 1969] zu verwenden, der selbst ein Kunstwerk sein könnte? Wie steht es mit der Kunst nach dem Ende der Kunst, wobei „nach dem Ende der Kunst“ in meinem Diskurs „nach dem Erstehen philosophischer Selbstreflexion“ bedeutet? Wobei ein Kunstwerk aus einem beliebigen Objekt bestehen kann, das als Kunst ins Recht gesetzt wird und die Frage aufwirft: „Warum bin ich Kunst?“

Mit dieser Frage war die Geschichte der Moderne vorbei. Sie war vorbei, weil die Moderne zu sehr lokal beschränkt und zu materialistisch war, da es ihr um Form, Oberfläche, Pigment und dergleichen ging, die alle den Reinzustand der Malerei definierten. (…) Mit dem philosophischen Mündigwerden der Kunst wird das Visuelle (…) unwichtig, ist fortan so wenig relevant für das Wesen der Kunst, wie sich die Schönheit als nicht relevant erwies.“

Danto, Arthur Coleman: Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 35–39.

Über Distinktionsbedürfnisse

„Alles in allem wurde dem Konsumenten von Kunst vermutlich noch nie derart viel abverlangt wie heute, da er aufgerufen ist, den künstlerischen Prozeß zu re-produzieren, in dem der Künstler (unter Mithilfe des gesamten intellektuellen Feldes) den neuen Fetisch geschaffen hat. Vermutlich wurde ihm aber auch noch nie derart viel wieder zurückgegeben: Der naive Exhibitionismus des „ostentativen Konsums“, der Distinktion in der primitiven Zurschaustellung eines Luxus sucht, über den er nur mangelhaft gebietet, ist ein Nichts gegenüber der einzigartigen Fähigkeit des „reinen Blicks“, dieser gleichsam schöpferischen Macht, die kraft radikaler, weil scheinbar den „Personen“ selbst immanenter Differenzen vom Gemeinen scheidet.

Ein Blick in Ortega y Gassets Werk läßt zur Genüge ermessen, in welchem Unfang die charismatische Begabungsideologie Bekräftigung zieht aus der modernen Kunst, die in seinen Augen „wesentlich volksfremd; mehr als das, … volksfeindlich (ist)“ sowie aus dem „merkwürdigen Effekt“, den diese hervorruft, indem sie das Publikum, die Masse, in zwei „gegensätzliche Gruppen“, in zwei „Kasten“ trennt: „die verstehen“ und „die nicht verstehen“. „Das schließt ein“, so fährt unser Autor fort, „daß die einen ein Aufnahmeorgan besitzen, das den anderen offenbar versagt ist; daß es sich um zwei Varietäten der Spezies Mensch handelt. Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit“. Und die Irritation, die sie bei der Masse hervorruft, die „nicht fähig ist, das Sakrament der Kunst zu empfangen“, schreibt er der Demütigung zu und dem „trübe(n) Bewußtsein von Unterlegenheit“, das diese „Kunst der Bevorrechtigten, des Nervenadels, der Instinktaristokratie“ bewirkt. „Anderthalb Jahrhundert lang hat das Volk behauptet, es sei die ganze Gesellschaft. Strawinskis Musik und Pirandellos Drama kommt eine soziologische Wirkungskraft zu, die es zwiengt, sich als das zu erkennen, was es ist, als „nichts als Volk“, als einen Baustein neben vielen im sozialen Verband, als träges Substrat des historischen Prozesses, als eine Nebensache im Kosmos des Geistes. Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen und ihre Mission begreifen: wenig sein und gegen viele kämpfen.“(1)

Und als überwältigender Beweis, daß die selbstlegitimatorische Einbildungskraft der happy few keine Grenzen kennt, sei auch noch Susanne Langer zitiert, die nach einhelliger Meinung als eine der „world most influential philosophers“ angesehen werden darf: „Früher war den Massen der Zugang zur Kunst verwehrt; Musik, Malerei, ja selbst Bücher waren ausschließlich den Reichen vorbehaltene Vergnügen. Man konnte davon ausgehen, daß die Armen, der „Vulgäre“, sich gleichermaßen daran ergötzen würden, wäre ihnen nur erst die Möglichkeit zu solchem Genuß gegeben. Heute jedoch, wo jeder lesen, Museen besuchen, ernste Musik zumindest im Radio hören kann, ist das Urteil der Massen darüber zu einer Realität geworden – aber auch sinnfällig, daß große Kunst kein unmittelbar sinnliches Vergnügen ist („a direct sensous pleasure“). Andernfalls müßte sie, wie Kuchen oder ein Cocktail, dem ungebildeten wie dem kultivierten Geschmack schmeicheln.“(2)

1) J. Ortega y Gasset, „Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst“, Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 230 ff.
2) Susanne K. Langer, „On Significance in Music“ in Aesthetics and the Arts, Herausgeber Lee A. Jacobus, New York, 1968, S. 182–212, hier 183.“

Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“, Frankfurt am Main, 1982, S. 60–62.

Über Subjektivität und Authentizität

„Die Subjektivität ist in der Malerei nicht nur dadurch zur Geltung gekommen, dass sie in der privaten Sphäre rezipiert wurde. Seit dem 19. Jahrhundert ist die Subjektivität auch ein Kriterium für die Herstellung von Malerei: Der Künstler objektiviert sich selbst in Malerei; sie wird zu einem Spiegel persönlicher Befindlichkeit und Empfindungskraft. Das Kunstwerk als Ausdrucksträger der seelischen Konstitution eines Genies entzieht sich allen Vorgaben durch bestellende kirchliche, politische oder mäzanatische Instanzen. Die Kunst geht gleichsam in Opposition zu den gegebenen gesellschaftlichen Normen. Der Künstler wird ein Sonderwesen, das auf Wahrhaftigkeit und Authentizität verpflichtet ist. Diese Autonomie des künstlerischen Schaffens hat Probleme erzeugt, die den Künstler in die Isolation getrieben haben. Doch die Avantgarden der Moderne haben diese neue Position des Künstlers nicht nur akzeptiert, sondern auch produktiv gehalten, indem sie gesellschaftliche Konventionen und gewohnte Wahrnehmungsformen immer wieder in Frage stellten und durch radikale Subjektivität eine Strategie der permanenten Zumutungen und Provokationen verfolgt haben. Nachdem die Öffentlichkeit von neuen Massenmedien versorgt wird, welche die alten Informations-und Indoktrinationsaufgaben der Malerei und der Grafik übernommen haben, können die bildenden Künste die Defizite und Abgründe, welche die Zivilisation dem Subjekt hinterlässt, artikulieren und durch freie ästhetische Gegenbilder zur gegebenen Ordnung zu deren Weiterentwicklung beitragen.“

Warnke, Martin: Gegenstandsbereiche der Kunstgeschichte, in: Belting, Hans u.a. (Hrsg.): Kunstgeschichte: Eine Einführung, 7. überarbeitete Auflage, Berlin 2008, S. 39/40.