Normalerweise ist die Zeit nach Vorlesungsende die, in der ich Hausarbeiten schreibe. In diesem Semester ist das natürlich anders, denn alles, was ich abgeben musste, ist bereits abgegeben: mein Praktikumsbericht (über meine Berufstätigkeit, aber nun gut), meine BA-Arbeit, meine Französischklausur. Alle Referate sind gehalten, ich habe nichts mehr zu tun, bis die LMU oder die Uni Hamburg sich entscheiden, mich als Master weiterstudieren zu lassen.
Deswegen habe ich jetzt endlich mal Zeit, ausführlich in der Bibliothek zu sitzen und zum Vergnügen zu lesen, ohne Ziel, ohne einen roten Faden für ein Referat oder eine Hausarbeit im Kopf zu haben, einfach nur so da sitzen und lesen, was mich spontan gerade interessiert.
Wobei „spontan“ hier die falsche Formulierung ist: Die Kunst des Nationalsozialismus interessiert mich schon länger. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 ist die, über die ich historisch am besten Bescheid weiß, weil ich vor 30 Jahren angefangen habe, über sie zu lesen und zu lernen. Mit ihrer Kunst befasse ich mich erst seit sechs Semestern etwas näher, und vor allem eine Vorlesung im Wintersemester 2014/15 hat bei mir viel Nachdenken angestoßen und meine Neugier weiter geweckt.
In der Pinakothek der Moderne hängt gerade eines der bekanntesten Werke aus der NS-Zeit, Die vier Elemente von Adolf Ziegler. Daneben steht die Skulptur Zwei Menschen von Josef Thorak, die auch in 1941 der Großen Deutschen Kunstausstellung zu sehen war.
Generell bekommt man Werke aus dieser Zeit eher selten zu Gesicht, außer im Deutschen Historischen Museum in Berlin oder im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, wo einige Werke zur ständigen Sammlung gehören. Weitere Werke stehen verschämt in den Depots, werden aber nicht gezeigt – und seit einiger Zeit frage ich mich, warum? Je weniger wir sie sehen, desto dämonischer werden sie, und genau das haben sie überhaupt nicht verdient. Julia Voss schrieb im Merkur 2012 (leider nicht vollständig online) über den virtuellen Gang durch die Große Deutsche Kunstausstellung: „Wer im Internet die Ausstellungsräume durchschreitet, fühlt sich wie jemand, der eine Höhle betritt, von der es hieß, sie sei von Drachen bewohnt, und darin auf Eidechsen, Molche und Lurche trifft.“
Das Zitat stammt aus einem Aufsatz von Christian Fuhrmeister, den ich gestern als erstes las: Kunst im Nationalsozialismus: Rezeptionsgeschichte, Forschungsstand und Perspektiven, in: Holger Germann/Stefan Goch (Hrsg.): Künstler und Kunst im Nationalsozialismus. Eine Diskusssion um die Gelsenkirchener Künstlersiedlung Halfmannshof, Essen 2013, S. 11–20. Fuhrmeister beschreibt zunächst den schlechten Forschungsstand, was NS-Kunst angeht:
„Bis vor kurzem hat die Kunstgeschichte vor allem jene Werke berücksichtigt, die während des nationalsozialistischen Regimes in Büchern, Katalogen, Zeitschriften oder Zeitungen publiziert worden waren, oder die als Postkarte oder in der medialen Berichterstattung (Wochenschauen etc.) die Öffentlichkeit erreichten. Im Falle der GDK bedeutet dies konkret, dass von den bis zu 1.800 Exponaten pro Jahr nur rund 60, also nur gut drei Prozent, in den Katalogen abgebildet wurden. Dieser außerordentlich selektive Materialzugriff – der im Kern die Prinzipien der Bildauswahl im Nationalsozialismus fortschreibt, also den Eigeninterpretationen des NS-Regimes folgt –, ist nur sehr selten kritisch reflektiert worden.“ (S. 12)
Erst die digitale Aufbereitung durch die Bereitstellung der Bild- und Forschungsdatenbank zur GDK schaffte einen ersten Überblick über das, was die Nationalsozialisten als ausstellungswürdig betrachteten:
„Von den zwischen 1937 und 1944 circa 12.500 auf der Großen Deutschen Kunstausstellung zum Verkauf angebotenen Werken war jedenfalls vor Freischaltung der Datenbank nur bei rund 10% der Exponate überhaupt bekannt, wie sie aussahen. Anders gesagt: 2012, 75 Jahre nach der Eröffnung der ersten Großen Deutschen Kunstausstellung im Jahr 1937, wissen wir von der „Kunst des Nationalsozialismus“ nach wie vor noch kaum etwas, oder nur sehr wenig. So müssen etwa die „Top Five“ der GDK, das heißt diejenigen Künstler, die dort am häufigsten ausstellten (Franz Eichhorst, Hans Müller-Schnuttenbach, Raffael Schuster-Woldan, Anton Müller-Wischin und Peter Philippi) als grosso modo unbekannt bzw. unbearbeitet gelten. Es gibt keine kritischen Studien […], sondern nur eher affirmative Retrospektiven; es gibt keine solide kunsthistorische Bearbeitung, ja [zu Philippi] noch nicht einmal verlässliche biographische Daten […]. Fast 50 Werke präsentierte Philippi in der zentralen nationalsozialischen Leistungsschau, doch selbst in der exzellenten Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte kann nur eine einzige kursorische Erwähnung in über 500.000 Fachbüchern nachgewiesen werden.“ (S. 12/13)
Fuhrmeister erläutert, wie diese Leerstelle zustande kam: Bis weit in die 1960er Jahre hinein wurde die NS-Kunstgeschichte totgeschwiegen und tabuisiert, Biografien wurden gesäubert, Werkverzeichnisse gekürzt, Städte und Museen tilgten bewusst Erinnerungen. Die sogenannte Giftschrankpolitik der amerikanischen Militärregierung tat ein übriges: Viele Werke wurden eingezogen und unter Verschluss behalten. Erst in den 1990er Jahren erwachte ein Interesse an diesen Werken. Wer sich nun mit dieser Kunst befassen wollte, konnte aber nicht auf Verzeichnisse zurückgreifen, die in renommierten Häusern publiziert wurden, sondern musste sich mit einer Enzyklopädie der Kunst im Dritten Reich begnügen, die zwischen 1988 und 1995 bei einem rechtsextremen Verlag veröffentlicht wurde.
Im Verlauf des Aufsatzes kommt Fuhrmeister auch auf die Rezeptionsgeschichte zu sprechen, und das ist der Teil, der mich persönlich sehr interessiert:
„Ungeachtet aller Differenzierungsversuche, aller minutiösen Herausarbeitungen von Brüchen und Kontinuitäten, herrscht in vielen Köpfen ein klares Bild vor: hier klassische Moderne, dort ideologisch kontaminierte und politisch indoktrinierende NS-Kunst.“ (S. 15) Allerdings kann gerade die angestrebte Indoktrination nicht immer nachgewiesen werden. Die Forderung nach einer „ideale[n], rassereine[n] Gestaltung“ (S. 16) ist belegbar, ihre konsequente Umsetzung allerdings nicht. Die Kunst nach 1933 war nicht einheitlich, sondern vielfältig – unser Bild von ihr ist es aber nicht. Fuhrmeister beschreibt einige Ausstellungsräume der GDK und zeigt, dass teilweise schlicht dekorativer Charakter vorherrscht. Gleichzeitig weist er auf Widersprüche in der Bildauswahl hin: Welche Bilder waren ausstellungwürdig, welche nicht, obwohl sie sich ähneln?
„Einen Kanon, eine Einheitlichkeit […] werden wir dabei kaum finden, und zwar selbst dann nicht, wenn sich mehrere Künstler demselben Motiv widmen. Die Familie als Kern der Volksgemeinschaft hängt bei der GDK 1938 dreifach im Treppenhaus: Links als ganzfigurige, steif-biedere Idylle („Deutsche Siedlerfamilie“ von Georg Siebert), in der Mitte als erdverbunden-bildungsbürgerliches Gruppenporträt („Landarzt Dr. Ursin im Kreise seiner Familie“ von Albert Janesch) und rechts als penetrant arische Version („Deutsche Familie“ von Wolfgang Willrich) – ganz unterschiedliche Konfigurationen, ganz unterschiedliche Wertvorstellungen. Das latent und manifest ideologische Motiv der Familie kann freilich kaum eine konzentrierte Wirkung entfalten, werden diese drei Werke doch sorgfältig von Blumenstillleben interpunktiert, mit Mädchenköpfen in die Symmetrie getrieben und von Tierplastiken flankiert. Genuin dekorative Aspekte spielen offenkundig eine wesentlich wichtigere Rolle als bisher angenommen. Doch erst dieser Ensemble-Charakter – die mise-en-scène der ausgewählten Kunstwerke – ermöglicht eine Annäherung an den zeitgenössischen Betrachterhorizont und damit ein besseres Verständnis von Anspruch und Zielen der Kunst im Nationalsozialismus. Und wenn es auch motivisch stärker geschlossene Räume gibt, die etwa ausschließlich Tier- oder Industriedarstellungen oder weiblichen Akten gewidmet sind, so können dennoch zahlreiche Räume beim besten Willen nicht auf einen Nenner gebracht werden. Badende sind mit Autobahnbrücken konfrontiert, Panzer mit Hundeporträts, und stets lugt eines der omnipräsenten Blumenstillleben um die Ecke.“ (S. 17/18)
Über den Umgang mit Kunst, die zwischen 1933 und 1945 entstand sowie mit ihrer Ästhetik, befasst sich auch Christoph Zuschlag in seinem Beitrag zu einem Ausstellungskatalog: Ein schwieriges Erbe. Über den Umgang mit Kunst aus der NS-Zeit, in: Marlene Lauter/Museum im Kulturspeicher Würzburg (Hrsg.): Tradition & Propaganda. Eine Bestandsaufnahme. Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus in der Städtischen Sammlung Würzburg, Würzburg 2013, S. 15–25. Auch Zuschlag fordert, dass diese Bilder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen, und auch er schreibt, dass es keinen einheitlichen, „dämonischen“ Kanon gebe. Er weist aber darauf hin, dass die Werke durchaus einer gewissen politischen Linie zu folgen hatten:
„Entgegen dem eigenen Anspruch, eine „revolutionäre“, eine „neue deutsche Kunst“ zu schaffen, erwies sich die vom Staat geförderte Kunst in erster Linie als kontramodern und restaurativ. Das zeigt sich am deutlichsten in der Malerei, in der die traditionelle Gattungsmalerei des 19. Jahrhunderts – Historienmalerei, Porträt, Genre, Landschaft, Stillleben, Akt und Allegorie – wiederbelebt, eine Rückkehr zur altmeisterlichen Malerei propagiert und das Handwerkliche betont wurde. Auch wenn es keinen einheitlichen Stil und keinen ästhetischen Kanon gab, war die stilistische Bandbreite gering, weil eine „volksnahe, naturalistische Gegenständlichkeit gefordert war. Thematisch ging es auch hier um eine Illustration der NS-Propaganda und um Rollenklischees: die Frau als Mutter, als „Lebensquell“, als „Hüterin des Lebens“, oder „Hüterin der Art“; der Mann als Bauer, Handwerker, Held, edler Kämpfer und Soldat; die „arische“ Familie als Keimzelle der „Volksgemeinschaft“; Landschaft als Ausdruck von Heimat, als Symbol der Verwurzelung mit der „deutschen Scholle“, als Bestandteil der „Blut-und-Boden“-Ideologie etc. Weit verbreitet waren außerdem bäuerliche Szenen. Dabei beschworen die Bilder bäuerlicher Arbeit und Lebensweise eine agrarische, vorindustrielle Idylle, die mit der Realität der hochtechnisierten Gesellschaft im NS-Staat nichts zu tun hatte. Hier zeigt sich exemplarisch, wie die Kunst im NS-Staat sich zwar volkstümlich gab, in Wahrheit aber verlogen war, indem die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiert wurden.“ (S. 21)
Zuschlag weist auch auf das politische Potenzial scheinbar unpolitischer Bilder hin: Gerade die in einer Vielzahl vertretenen und auch von Fuhrmeister erwähnten Blumenstillleben verschleiern die Zeit des Krieges und gaukeln eine heile Welt vor, die nicht mehr existiert. Wären sie allerdings vor 1933 oder nach 1945 gemalt worden, könnte man sie nicht als „NS-Kunst“ abqualifizieren.
Über diesen Widerspruch muss ich noch nachdenken. Mir ist schon klar, dass ein und dasselbe Bild in verschiedenen Zeiten unterschiedlich wahrgenommen wird, aber gerade an diesen unpolitischen und dann doch politischen Bildern knabbere ich noch rum. Im Aufsatz wird auf einige Künstler hingewiesen, die schon vor 1933 einen naturalistisch-gegenständlichen Stil hatten und ihn beibehalten konnten; für einige Künstler der Neuen Sachlichkeit wurde das bereits untersucht. Buchtipps für mich zum Merken und Noch-Lesen: Markus Heinzelmann: Die Landschaftsmalerei der Neuen Sachlichkeit und ihre Rezeption zur Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1998 und Olaf Peters: Neue Sachlichkeit und Nationalsozialismus. Affirmation und Kritik 1931–1947, Berlin 1998.
Zuschlag erwähnt auch kurz die Qualität der Bilder der GDK. Durch die rigide Kunstpolitik konnten viele begabte Künstler_innen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, während viele Minderbegabte plötzlich ausstellen konnten, schlicht weil ihre Werke dem Zeitgeist entsprachen und sie kulturpolitisch unauffällig waren. Das bedeutet aber nicht, dass jedes Bild, das damals im Haus der Kunst hing, von vornherein als ästhetisch minderwertig angesehen werden kann.
Noch mal zurück zur Linie der damaligen Kunst. Nach den beiden Aufsätzen begann ich ein Buch von Elke Frietsch: „Kulturproblem Frau“. Weiblichkeitsbilder in der Kunst des Nationalsozialismus, Köln 2006. Das habe ich gestern natürlich nicht durch-, sondern nur anlesen können, aber schon in der Einleitung fand ich Spannendes:
„Mein Interesse bei der Analyse von NS-Körperbildern ist auf ein ganz bestimmtes Phänomen gerichtet: Bei Durchsicht der während der Zeit des Nationalsozialismus erschienenen Kunstzeitschriften fällt auf, dass die Auseinandersetzung in den Kunstberichten [Kunstkritik war seit 1936 verboten] beständig um Begriffe wie „Abbild“ und „Idealbild“, „Form“ und „Inhalt“ kreisen. […] In der Gegenüberstellung von als entartet verfemter Kunst mit den Fotografien von Körpern realer Menschen wird eine Normierung geschaffen, doch mit der Setzung einer Norm, deren Kriterien exakt nachprüfbar sein sollen, werden auch der eigenen, idealisierten Kunst Schranken gesetzt. Schließlich birgt das Streben nach wissenschaftlicher Objektivität eine Gefahr für den „weltanschaulichen Diskurs des „Führers““. In der Philosophie im NS wird dieser Gefahr durch eine Ablehnung des Formalismus und Empirismus begegnet. Wird in parteiamtlichen Formulierungen von NS-Theoretikern ebenso wie in der Philosophie nie eindeutig definiert, was die deutsche „Rasse“ sei, so vermeiden es die Kunstberichterstatter, präzise Aussagen über den „deutschen Stil“ zu treffen. Stattdesen wird beständig die Rede von der „Klarheit“ der Kunst bedient. [Es] klingt die Forderung an die Kunst an, Leerstellen in der Weltanschauung in einem vermeintlich ganzheitlichen Bild zu überblenden. Die Programmatik ist vor dem Hintergrund unzähliger Aussprüche zu sehen, in denen die Kunst gegenüber dem Intellekt abgegrenzt und aufgewertet wird.
Hitler wollte den Staat als „Gesamtkunstwerk“ inszenieren, wobei auch Legitimationsversuche aus den Geisteswissenschaften herangezogen wurden, die wissenschaftliches Arbeiten resp. Streben nach Faktizität durch Mythos ersetzten. Dort, wo theoretische Unschärfen offensichtlich sind, soll die Kunst „Wahrheit“ suggerieren. Sprechen die Philosophen vage von „geistiger Zielsetzung“ und „geistiger Überlieferung“, um das „neue Menschenideal“ zu erfassen, so erklären die Kunstberichterstatter, dass das „neue Wesen“ hinter dem äußeren Erscheinungsbild liege. Es sei gerade die Qualität dieses Wesens, dass es nicht mit dem Verstand definiert, sondern nur über das Gefühl, das „innere Auge“ erlebt werden könne. Originalton der „Türmer“ 1941: „Nicht begreifen wollen wir Deutsche, sondern erleben. Wir müssen endlich mal unsere Bildung überwinden.“ (S. 11–13)
In der oben erwähnten Ausstellung in der Pinakothek der Moderne liegen auch einige Zeitungsberichte aus. Die News Review vom 7. Juli 1938 berichtet über die Ausstellung der „entarteten“ Kunst und der zugleich eröffneten GDK und erwähnt, was die Nazis unter nicht-kunstwürdiger Kunst verstehen: „Jewish, wrong theme, wrong treatment.“ Was genauso blumig bleibt wie von Frietsch beschrieben. Sie zitieren Hitler, der 1937 über Impressionismus und Futurismus gesagt haben soll: „I wish to forbid such lamentable unfortunates who plainly suffer from defective sight, who try to talk the world into accepting their false observation of reality.“
Wer mehr über den Umgang mit Kunst aus der NS-Zeit oder Adolf Ziegler wissen will, kann sich zwei Vorträge der Pinakotheken auf YouTube gönnen: eine Podiumsdiskussion zur Ausstellung und einen Vortrag von Christian Fuhrmeister über Ziegler.
(Die Reihe „Semesterferien-Rumlesen“ wird vermutlich locker fortgesetzt.)