„Alle Rede im Sinne des „erweiterten Kunstbegriffs“ lief am Ende auf die Vorstellung von einer umfassenden schöpferischen Umgestaltung des Lebens hinaus: „Mein Begriff von Plastik bezog sich immer auf das Leben, auf das Gesamtkunstwerk, man kann auch sagen auf die menschliche Gesellschaft als Skulptur.“ Er[, Joseph Beuys,] sprach von der „Sozialen Skulptur“, die erst dann verwirklicht sei, „wenn der letzte lebende Mensch auf dieser Erde zu einem Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus geworden ist.“
Mit den 68ern und ihren Vorstellungen von der Veränderung der Gesellschaft konnte Beuys nicht viel anfangen, er wollte die Menschen ändern, nicht mit Mitteln des Klassenkampfes, sondern mit den Mitteln der Kunst: „Radikal gesagt, gibt es überhaupt keine andere Methode, die noch übrigbleibt, als die Kunst. Also werde ich der Kunst auch die zentrale Rolle einräumen.“
Der entscheidende Unterschied zu den verbalen Bekundungen anderer Künstler lag in dem Verlangen, nicht in erster Linie der eigenen Kunst die adäquate Grundlage zu schaffen und eine sinngemäße Rezeption zu ermöglichen, sondern von den großen Menschheitsfragen auszugehen, Lösungen weit über den Künstlerhorizont anzupeilen und in diesem Rahmen dann der eigenen Kunst einen festen Stellenwert einzuräumen. (…)
So wurde in den letzten Jahren noch einmal ganz deutlich, daß Zeichnen, Formen, Sprechen, Handeln – Praxis und Theorie – bei Beuys eine untrennbare, charakteristische Einheit bilden, wie auch Werk und Person, Auftritt und Leben bei ihm eine Einheit waren, die stets im Zeichen der verändernden Kunst stand. Daß er diese Einheit lebte, machte ihn zum Visionär, dem letzten Visionär in der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Wo aber das Werk vom Charisma seines Schöpfers und von dessen Auftritten begleitet, wenn nicht entscheidend geprägt wird, stellt sich die Frage, wie das Werk nach dem Tod seines Schöpfers wirksam weiterexistiert. Die zeichnerischen, die skulpturalen, die installatorischen Werke bleiben. Die Aktionen aber sind vergangen wie alte Theaterinszenierungen, Dokumente sind an die Stelle des zentralen Werkkomplexes getreten, Vorstellungskraft hat die leibhafte Erfahrung zu ersetzen; die Rede findet nicht mehr statt, ist zur Schrift geworden; die Visionen lassen sich nicht authentisch fortentwickeln. Mit dem Künstler des erweiterten Kunstbegriffs scheint auch ein wesentlicher Teil seiner erweiterten Kunst dahingegangen. Geblieben ist der herkömmlich faßbare Teil, und der erscheint ohne die gestaltende Präsenz zwangsläufig in weniger lebhaftem Licht.“
Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert: Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, München 2010, S. 240/241 und 243.