Kunst gucken: PLAYTIME, Kunstbau im Lenbachhaus, München

Der Kurs Spaces of Experience wird immer mehr zur Wundertüte. Am Anfang dachte ich, naja, da gucken wir uns halt ein paar Museen an, was soll sich da schon groß unterscheiden, das sind ja immer Räume mit Zeug drin, aber je länger der Kurs dauert, desto spannender werden die Einblicke. Wir waren zum Beispiel in der Alten Pinakothek, wo wir über den Einfluss von Wandfarben und Licht auf die Kunstrezeption sprachen. Danach kam das Bayerische Nationalmuseum dran, in dem ich die sogenannten period rooms kennenlernte – also Räume, die so gar nicht dem heute gewohnten white cube entsprechen, sondern Räume, die die BesucherInnen in eine bestimmte Stimmung versetzen sollen, indem durch Einrichtung und Gestaltung des Raums eine Epoche erweckt wird. So gibt es Räume, die an eine gotische Kirche erinnern, wieder andere sind im Stil von römischen Thermen gestaltet, und ein dritter ist quasi selbst das Ausstellungsstück: Die Holzvertäfelung der Augsburger Weberstube wurde auf eine eigens dafür gestaltete Wand aufgebracht, so dass man sich wirklich wie im 15. Jahrhundert fühlt. Was eine wissenschaftliche Auseinandersetzung aber erschwert – der Kurator erwähnte, dass man die Wandvertäfelung natürlich auch auf ein Stahlgerüst hätte anbringen können, aber das war Ende des 19. Jahrhunderts – aus der Zeit stammt der Raum – noch nicht en vogue.

Dann kam die Hypo-Kunsthalle, die sich von den bisherigen Museen dadurch unterschied, dass sie keine ständige Sammlung hat, was die Organisation von Ausstellungen erschwert. Normalerweise laufen die Deals zwischen Museen flapsig ausgedrückt so: „Leihst du mir deinen Kirchner, leihe ich dir meinen Picasso.“ Diese Möglichkeit hat die Hypo-Kunsthalle nicht, weswegen sie meist mit anderen Museen kooperiert, das heißt, eine Ausstellung findet nacheinander an zwei Orten statt. Was das andere Museum davon hat? Ganz simpel: mehr Einnahmen. Ein Beispiel: Bei einer Kooperation mit dem Kunsthistorischen Museum in Wien waren die Einnahmen durch Kataloge deutlich höher als bei einer Einzelausstellung im KHM – aus dem schlichten Grund, dass das KHM eher eine Touristenattraktion ist. Touris gucken sich die Kunst pflichtschuldig an, wollen aber keinen schweren Katalog mit nach Hause schleppen. Die Hypo-Kunsthalle wird eher von MünchnerInnen besucht bzw. Menschen, die gezielt diese eine Ausstellung sehen wollen, und die geben dann auch mal 40 Euro aus und tragen drei Kilo Papier in die U-Bahn. Schon werden deutlich mehr Kataloge zur gleichen Ausstellung verkauft und beide Museen haben was davon.

Was ich an dem Haus auch spannend finde, ist seine variable Ausstellungsarchitektur. Die Räume sind sehr wandelbar, weswegen ich bei der von uns besuchten Dix-Beckmann-Ausstellung auch fast in den Ausgang anstatt in den Eingang gelaufen wäre, denn der lag bei meinem letzten Ausstellungsbesuch (Pracht auf Pergament, 1000 Jahre alte Bücher) eben am anderen Ende. Diese Ausstellung kam für mich etwas früh; jetzt, mit meinem ganzen frisch erworbenen Mittelalterwissen, könnte ich sie viel mehr würdigen. Aber ich war ja damals schon eine brave Besucherin und habe 40 Euro für drei Kilo Papier ausgegeben und kann mir daher jetzt immerhin noch den Katalog angucken.

Dann kam das Haus der Kunst und die Matthew-Barney-Ausstellung zu seinem Film River of Fundament, die mich überraschenderweise doch beeindruckt hat (hatte ich nicht erwartet). Hier fand ich natürlich besonders die Geschichte des Hauses spannend, die inzwischen auch wieder sichtbar ist. Wo nach dem 2. Weltkrieg versucht wurde, die klassische Nazi-Architektur zu verschleiern, wurde nach und nach bewusst zurückgebaut. Blöderweise habe ich mir ausgerechnet das Wort „Blutwurstmarmor“ für die rostroten Säulenverkleidungen gemerkt. Und noch mehr sinnloses Wissen: Die Fliesengröße der Fußböden ist im ganzen Haus unterschiedlich, je nachdem wie langsam oder schnell man die BesucherInnen an den Werken vorbeiführen will. In der ehemaligen Ehrenhalle – die heutige Mittelhalle, also der Riesenraum, in den man reinkommt, wenn man geradeaus durchgeht – sind die Fliesen ungefähr ein mal einen Meter groß: perfekte Stechschrittweite. Im ersten Stock, wo die kleinen Bildwerke hängen, sind es ungefähr 50 mal 50 Zentimeter, damit man sich möglichst langsam bewegt. Und im Erdgeschoss, da wo jetzt gerade Barney vor sich hinmonumentiert, liegen Fliesen, die ungefähr 65 mal 65 Zentimeter groß sind: die „Schlenderfliesen“. Der Begriff ist seit dem Besuch gnadenlos in meinem Wortschatz.

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Tehching Hsieh, „One Year Performance 1980-1981 (Waiting to Punch the Time Clock)“
Photograph by Michael Shen
© 2014 Tehching Hsieh
Courtesy the artist and Sean Kelly, New York

Letzten Mittwoch besuchten wir den Kunstbau des Lenbachhauses, also diesen lustigen Ausstellungsraum an der U-Bahn-Station Königsplatz, wo man aus dem Haus raus auf die Rolltreppen zur U-Bahn guckt und umgekehrt die U-Bahn-Gäste beim Runterfahren ein bisschen Kunst mitkriegen. Die Ausstellung: PLAYTIME. Ich zitiere von der Ausstellungswebsite (Binnen-I, yay):

„Arbeit verspricht nicht nur Selbstverwirklichung, sondern auch soziale Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. Nicht zuletzt deshalb hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben stattgefunden. Das Paradox von Arbeit liegt heute vor allem darin, dass der arbeitende Mensch durch die zunehmende Automatisierung und Technisierung überflüssig zu werden scheint, während gleichzeitig alles zu Arbeit wird. (…)

Die Ausstellung PLAYTIME knüpft an die in Jacques Tatis gleichnamigen Film geäußerte, feinsinnige Kritik der modernen Arbeitswelt an und stellt verschiedene Fragen: Wie setzen sich KünstlerInnen unterschiedlicher Generationen und Hintergründe mit dem Thema Arbeit auseinander? Was bedeutet künstlerisches Arbeiten heute? Und inwiefern unterscheidet sich künstlerische Arbeit von anderen Formen der Arbeit?“

Die Ausstellung versammelt Videokunst, Zeichnungen, Fotografien, Dokumentationen von Performances und Objektkunst und ist damit von vornherein sehr abwechslungsreich. Noch spannender sind natürlich die einzelnen Auseinandersetzungen mit dem Thema – und für mich als Kursteilnehmerin bzw. Studentin wie immer die Hintergrundinfos bzw. Diskussionen mit der Kuratorin. So habe ich zum Beispiel noch nie darüber nachgedacht, ob es sich um verschiedene Kunstwerke handelt bzw. sich das Wesen des Werks ändert, wenn sich das Medium ändert, mit dem es wiedergegeben wird.

Eines meiner liebsten Werke war Martha Roslers Semiotics of the Kitchen von 1975 (hier auf YouTube zu sehen), das ich im letzten Semester im Kurs über amerikanische Kunst seit 1945 kennengelernt habe. Dieses Werk habe ich zum ersten Mal vollständig in einem Ausstellungskontext gesehen und das fühlte sich ein bisschen an wie einen Klassiker zu lesen. Rosler setzt sich mit der Rolle der Frau auseinander, die traditionell in der Küche verortet ist. Sie zeigt, wie auf Shopping-Kanälen, verschiedene Küchenutensilien in alphabetischer Reihenfolge in die Kamera, nutzt sie aber nicht so, wie wir heute im Zeitalter von kuscheligen Foodblogs eine Pfanne oder ein Messer zeigen würden, sondern geht aggressiv mit ihnen um bzw. nutzt harte, abgesetzte Bewegungen statt des klischee-igen Umgangs, den man erwartet. Wir haben uns generell bei den Videoinstallationen gefragt, ob es noch das gleiche Kunstwerk ist, wenn es von einer DVD abgespielt wird. Es gibt durchaus KünstlerInnen, die genau vorgeben, wie ihr Werk wiedergegeben werden soll – auf welchem Gerät welcher Bauweise, in welchem Abstand stehen eventuell Sitzgelegenheiten davor oder eben nicht, soll der Raum dunkel sein, muss es überhaupt ein Extraraum sein usw. Gehört die Wiedergabe des Werks noch zum Inhalt oder ist es eine Äußerlichkeit, die verhandelbar ist?

Ein weiteres Kunstwerk hat mich länger beschäftigt: Tehching Hsieh hat mit seinem Time Clock Piece eine einjährige Performance geschaffen, die viele Dokumente erzeugte. Sein Werk: ein Jahr lang, jeden Tag zu jeder vollen Stunde eine Karte in einer Stempeluhr stempeln. Was mich so irre macht an diesem Werk, ist der schiere Aufwand an körperlicher und geistiger Kraft, die dazu nötig ist, ein Jahr lang nie richtig durchzuschlafen und nichts wirklich machen zu können, weil es alle 60 Minuten unterbrochen wird. Von einem Jahr ausgesprochener Anstrengung bleibt nichts übrig, was irgendeinen Nutzen hat, wenn man schlichte kapitalistische Maßstäbe anlegt. Was stattdessen übrig bleibt, sind Berge von Stempelkarten, ein Video, das den Künstler bei jedem Stempeln zeigt sowie Fotos, auf denen das gleiche zu sehen ist. Hier fand ich eben diese Dokumente spannend, denn Hsieh überlässt es den jeweiligen Museen, was sie von diesem Werk ausstellen: alles? Nur eine Stempelkarte oder 150? Nur das Video und nicht die Bilder? Nur ein paar Bilder und kein Video? Ich finde dieses flexible Kunstwerk sehr interessant, mal abgesehen von der Performance an sich, die mir fassungslose Bewunderung abringt.

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Julian Röder, from the series: „Human Resources“, 2007–2009
backlight illuminated A1A transfer print in aluminium frame, 70 x 50 cm
Courtesy the artist and Russi Klenner, Berlin

Ich habe mich gefreut, mal einen Blick auf Andrea Frasers Untitled von 2003 werfen zu können, denn davon hatte selbst ich, die immer noch erschreckend ungebildet ist, was zeitgenössische Kunst angeht, etwas gehört. Ich zitiere die Künstlerin, die den Begleittext zu ihrem Werk selbst verfasste:

„Das Projekt Untitled begann im Herbst 2002, als Fraser den Galeristen Friedrich Petzel bat, einen Sammler zu finden, der an einem Projekt partizipieren würde, bei dem dieser Sex mit der Künstlerin in einem Hotelzimmer haben würde und die Begegnung auf einem vorab gekauften Videoband dokumentiert werden sollte. Der Verkauf war arrangiert und die Künstlerin und der Sammler trafen sich in einem Hotel in New York Anfang 2003. Das entstandene Video, das bis auf die Löschung des Tons unbearbeitet blieb, wurde als Kunstwerk definiert; von der Auflage von fünf erhielt der teilnehmende Sammler die Auflagennummer 1/5.“

Fraser stellt das Werk nur noch äußerst selten in Sammelausstellungen aus; stattdessen ist es fast ausschließlich in ihren Werkschauen zu sehen. Umso mehr hat es mich gefreut, es im Kunstbau zu finden. Auch hier ist die Aufstellung wichtig: Man sieht dem tonlosen Video auf einem kleinen Monitor zu, der in Kniehöhe in einer Ecke gedrängt steht. Man kann sich nicht hinsetzen und entspannt einem Geschlechtsakt zugucken, sondern lungert irgendwie komisch-voyeuristisch im Museumsgang rum. In unserer Gruppe kam die Frage nach dem Jugendschutz auf, woraufhin die Kuratorin erklärte, dass man sich bewusst gegen irgendwelche Hinweisschilder entschieden habe, sondern die Menschen an der Kasse angewiesen sind, Familien mit Kindern oder Jugendliche darauf hinzuweisen, welche Art Material zu sehen sein wird. Die Idee fand ich sehr gut; das Kunstwerk bekommt so keinen seltsamen Schmuddelcharakter, und einen persönlichen Hinweis finde ich eh netter als noch mehr Schilder bzw. Text an den Wänden. Wobei ich dessen Menge sehr angenehm fand.

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Ausstellungsansicht PLAYTIME
Dieter Roth, „Solo Szenen“
Dan Perjovschi, „Still Drawings Moving News“
Foto: Lenbachhaus
Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Weitere Lieblinge der Ausstellung waren die Bürozeichnungen von Peter Piller, die zwischen 2000 und 2004 entstanden. Als Angestellter einer Medienagentur verarbeitete er den schnarchigen Büroalltag auf dem Firmenbriefpapier, das jetzt mit Sätzen und Bildern versehen gerahmt im Museum hängt. Oder die Fotoserie Human Resources von Julian Röder. Erst in dieser Ausstellung ist mir die Perfidie dieses Begriffs so richtig aufgefallen. Außerdem die Wandbemalung von Dan Perjovschi. Er gestaltete, mit dicken Eddings ausgestattet, die Wandfläche direkt am Eingang und stimmt einen so auf die Ausstellung ein. Mir kam sein Werk zwar eher politisch motiviert vor anstatt dass es dem Motto der Ausstellung folgte, aber vielleicht ist es bei ihm eher die Arbeit des Wandbeschriftens an sich und nicht so sehr der Inhalt, der passt. Er leistet für die Ausstellung eine Arbeit, und mit dem Ende der Schau endet auch sein Werk, denn die Wände werden wieder überstrichen. Das fasst er übrigens selbst ganz rechts unten in der Ecke zusammen: “They pay me to mess with their walls, can you believe it?”

PLAYTIME läuft noch bis zum 29. Juni. Den Katalog kann man sich tollerweise für lau als eBook runterladen. Keine 40 Euro, keine drei Kilo Papier.

Warum hier länger nichts los war

Mich hatte ein Referat im Griff.

In meinem Kunstgeschichtskurs über bayerische Klöster seit den Karolingern wurden nicht wie sonst in der ersten Semesterwoche die Referate verteilt, sondern erst in der zweiten Sitzung. Und da Frau Naseweis ja unbedingt das Mittelalter wollte, wurde ihr Referatwunsch entsprechend quittiert: „Gut, dann sind Sie in zwei Wochen die erste.“ Ächz.

Zwei Wochen hört sich nach viel Zeit an (jedenfalls war halb Twitter dieser Meinung), aber ich habe in den letzten Semestern festgestellt, dass ich mit mindestens drei Wochen am besten arbeite. In der ersten Woche lese ich kreuz und quer alles, was mir unter die Finger kommt, am liebsten Aufsätze, denn die sind kürzer als Bücher und schon sehr speziell, was es mir erleichtert, eine ebenso spezielle Fragestellung zu entwickeln, mit der ich mich im Referat beschäftigen möchte. Außerdem dient die erste Woche dazu, in der Unibibliothek und der Stabi alles zu bestellen, was ich klicken kann und dann drei bis fünf Tage darauf zu warten, dass die Bücher in meinem Abholfach liegen.

In der zweiten Woche, in der ich so gut wie alles Material habe, das ich brauche, lese ich gründlicher bzw. suche gezielter nach Antworten auf die Frage, die ich hoffentlich inzwischen formuliert habe. Meist finde ich in Fußnoten noch weitere Literatur, in die ich mal reingucken will, und da ich ja noch über eine Woche Zeit bis zum Referat habe, klappt das meistens auch.

In der dritten Woche steht mein Referat schon ziemlich. Ich halte es mir selbst einmal, wobei ich grundsätzlich merke, was geht und was nicht: Wo muss ich Inhalte vorziehen oder zurückstellen, damit mir meine ZuhörerInnen folgen können, wo brauche ich ein Bild, wo nicht und was muss ich kürzen, damit ich nicht länger als die geforderten 20 Minuten werde. Ich musste bis jetzt immer kürzen: Wo ich am ersten Tag denke, keine Ahnung, wie ich jemals die Zeit rumkriegen soll, habe ich schon nach wenigen Tagen meist genug, um eine Stunde zu reden.

Wenn das Referat steht, bastele ich die Präsentation dazu. In Kunstgeschichte wollen wir immer Bilder sehen, in Geschichte war das bisher noch nicht nötig, aber das ändert sich vermutlich nächste Woche, denn da steht lustigerweise schon das nächste Referat an, weswegen es hier wahrscheinlich nach diesem Eintrag wieder ruhiger wird. Nach der Präsentation kommt noch das Handout für die KommilitonInnen, das quasi aus meinem Referat besteht, das ich auf Stichpunkte runterkürze und mit einer kleinen Literaturliste versehe.

Was ich an drei Wochen Zeit auch schätze, ist die Möglichkeit, zwischendurch einen Tag alles liegenlassen zu können. Ich mag es sehr gerne, den Kopf alleine weiterarbeiten zu lassen, während ich mich um andere Dinge kümmere, um dann nach einem Tag Pause frisch auf alles draufzugucken. Die drei Wochen geben mir auch einen kleinen Puffer, falls einer der hirntoten Tage kommt, an denen nichts geht. Das kenne ich schon von der Arbeit: Es gibt einfach Tage, an denen weißt du, dass du jeden Satz, den du jetzt gerade schreibst, morgen wieder löschst, weil er fürchterlich ist. Das beunruhigt mich nicht mehr so wie früher, weil ich weiß, dass das nur eine Phase ist. Diese Ruhe habe ich an der Uni aber noch nicht, weil ich mich da um lauter Themen kümmere, um die ich mich vorher noch nie gekümmert habe. In der Werbung, gerade wenn es um Autokataloge geht, weiß ich, was auf mich zukommt. In meinen Referaten weiß ich das nicht, da finde ich dauernd neue Fakten und Daten und lustige Einzelheiten, die ich gestern noch nicht wusste und die manchmal meine schöne These ruinieren, weswegen ich noch mal neu rangehen muss. Und dann ist es praktisch, wenn man drei Wochen Zeit hat.

Zu guter Letzt bietet mir diese Zeit auch die Möglichkeit, über den Tellerrand wegzugucken: Ich befasse mich nicht nur mit meinem speziellen Thema, sondern schaue mir auch das Umfeld an. Bei Hans Memling also: Was hat er von seinem (vermuteten) Lehrmeister Rogier van der Weyden mitgekriegt und wie malten die Italiener zu seiner Zeit? Bei Archipenko: Wie sah die Kunstszene in Paris und Berlin in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aus, was machten Picasso, Brancusi und Gris gerade? Und bei den German Sales: Wie sehen andere Datenbanken aus, was Inhalte und Funktionalität angeht? Ich sitze dann vorne nicht wie ein Fachidiot, sondern kann einschätzen, wo sich mein Thema einordnet.

Das ging dieses Mal alles nicht. Zusätzlich lag der 1. Mai in meiner Vorbereitungszeit, an dem alle Bibliotheken geschlossen haben, und von den wichtigen Büchern konnte ich mir gerade eins ausleihen, alle anderen standen im Historicum oder meiner geliebten KuGi-Bib, was mir aber am Feiertag so gar nichts brachte. Netterweise war ausgerechnet der 1. Mai der Tag, an dem mein Kopf überhaupt keine Lust hatte, weswegen das nicht weiter schlimm war. Trotzdem war es wieder ein Tag weniger, und ich war eh schon nervös genug, denn übermäßig viel Literatur hatte ich nicht gefunden, vor allem kaum wirklich neue, was der Dozent explizit gefordert hatte: „Nichts, was älter ist als zehn Jahre.“

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(Grundrissrekonstruktion der ersten Klosterkirche. Quelle: Dannheimer, Hermann: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee, München 2005, S. 40.)

Mein Thema war das Kloster Frauenwörth auf Frauenchiemsee. Die Ansage: „Was wissen wir eigentlich über Torhalle und Kirche?“ Ich suchte im OPAC also brav nach dem Kloster, fand eine Aufsatzsammlung von 2003 und entschied, die geht gerade noch, sowie einen Ausgrabungsbericht von 2005. Der brachte mich zu einem Grabungsbericht von 1966, und zusätzlich fand ich Rezensionen zu diesen Berichten, die die wissenschaftliche Diskussion der letzten 50 Jahre in Ansätzen nachzeichneten. Die Berichte befassten sich aber nicht nur mit Torhalle und Kirche, sondern auch mit den Klostergebäuden, dem Campanile, dem Friedhof und einzelnen Details wie den Bildprogrammen in der Kirche, einer Kapelle in der Torhalle und dem Kirchenportal mit seinem Tympanon und dem Türzieher. Ich hatte also einen Berg an Zeug und fand blöderweise immer mehr Zeug, denn die eben angesprochenen wissenschaftlichen Diskussionen wollte ich gerne selbst nachvollziehen. Das heißt, ich verließ mich nicht auf einen Halbsatz in einer Rezension, sondern suchte die Originalquelle. Deswegen verfranste ich mich langsam in der Stofffülle – was genau an der Torhalle und der Kirche wollte ich eigentlich besprechen? Die Architektur? Die Ausgrabungen? Die Bildprogramme?

Am Wochenende vor dem Referat war ich kurz davor, das Ding abzusagen, weil ich immer noch keinen roten Faden hatte, immer noch keine wirkliche Frage, aber dafür immer mehr Daten, Fakten und Namen, die sich in meinem Kopf gefühlt zu nasser Watte knüllten, ohne eine Chance für mich, irgendetwas fassen zu können. Ich erzählte mir meine Stoffsammlung selber, um so ein Ziel zu finden, fand es zwar nicht, merkte aber, dass ich mal wieder viel zu viel hatte und brach nach 35 Minuten Reden ab. Die Bildprogramme flogen raus, aber mehr wusste ich nicht. Erst beim Einschlafen kam der rettende Gedanke, der mir heute so logisch erscheint, dass ich mich frage, wieso ich nicht früher draufgekommen bin: Ich vergleiche die beiden Grabungsergebnisse und ihre Rezensionen und erzähle ganz simpel nach, einmal für die Kirche, einmal für die Torhalle, welcher Wissenschaftler wann was gesagt hat und wie er es begründet. Also: Wissenschaftler A findet ein altes Fundament unter der bisher als ältesten Kirche angenommenen, datiert es auf dann und dann und glaubt, es könnte eine Saalkirche gewesen sein. Wissenschaftler B glaubt, es könnte eine dreischiffige Basilika gewesen sein und begründet das so. Wissenschaftler C sagt, alles Quatsch, Jungs, Saalkirche it is und zwar deswegen. Genauso mit der Torhalle: „Der Putz ist von dann und dann.“ „Ja, aber der Holzfußboden ist älter.“ „Schnickschnack, Fußboden, ich hab hier einen Holzspan im nachweisbar ältesten Kalkmörtelestrich und der ist noch älter, ätsch!“

Damit konnte ich endlich mal wieder beruhigt schlafen, kürzte am Dienstag meinen Textwust auf eine anständige Menge runter und bereitete gleichzeitig die Präsentation vor. Im Laufe meiner Stoffsammlung hatte ich mir immer brav aufgeschrieben, wo welcher Grundriss und wo welches Diagramm zu finden war, um es schnell einscannen zu können. Das hatte ich Montag schon gemacht – viel zu viel gescannt, aber egal, das hatte ich jetzt Dienstag alles griffbereit und konnte es gemütlich in Keynote ziehen. Dienstag abend nahm ich mir frei, um am Mittwoch, nach der üblichen Nacht-zum-drüber-Schlafen, aus dem Referat das Handout zu erstellen. Dafür brauchte ich bis 22 Uhr – ich hatte ja auch noch Uni und Hausaufgaben –, hielt mir dann quasi zum ersten und einzigen Mal das Referat mit der Präsentation zusammen und ging gefühlt so unvorbereitet wie nie ins Bettchen.

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(Portal mit Tympanon der Klosterkirche Frauenwörth. Quelle: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 69.)

Am Donnerstag saß ich ab acht in der Uni, konnte da also auch nicht mehr machen als in jeder Pause zwischen den Seminaren noch mal meine Notizen zu überfliegen, wenn ich nicht gerade mit Gebäude- bzw. Raumwechsel oder Jogurt essen beschäftigt war. Um 14 Uhr war ich dann dran – dachte ich jedenfalls. Aber eine Kommilitonin begann vor mir: Ihr Thema war St. Emmeram in Regensburg, das weitaus wichtigere Kloster als mein kleines, schnuffiges Frauenwörth, an das ich ein bisschen mein Herz verloren habe. Sie begann, ohne ein Handout auszuteilen, was mich etwas wunderte, aber ich wollte auch nicht danach fragen. Das hatte ich auch schon öfter gesehen: Referentinnen, die so nervös waren, dass ihnen erst nach ihrem Referat einfiel, dass sie ja noch ein Zettelchen für uns hatten. Also sagte ich nichts, sondern hörte ihr zu, wenn auch etwas angestrengt, weil ich keinen roten Faden fand. Der Dozent anscheinend auch nicht, denn nach fünf Minuten stellte er die Killerfrage: „Geht das so weiter?“ Der Kurs zuckte wahrscheinlich ähnlich fies innerlich zusammen wie ich, keine Ahnung, wir saßen nur lämmergleich da und guckten starr nach vorne, wo die Referentin sich ihr eigenes Grab schaufelte, indem sie auf die Frage, welche Literatur sie denn benutzt habe, antwortete: „Ich hab ein paar Kirchenführer gelesen.“

Daraufhin wurde die Atmosphäre noch mal ungemütlicher, ich verabschiedete mich innerlich von einer guten Note, ging aber nach einer etwas lauteren Ansprache des Dozenten an den Kurs nach vorne und begann, mein Macbook mit dem Beamer zu verbinden, was meist nie auf Anhieb klappt. Währenddessen fragte eine Kommilitonin, wie sich der Dozent denn ein gutes Referat vorstellte; die Antwort habe ich nicht mitgekriegt, ich befand mich in den Systemeinstellungen und betete, dass die Beamergötter mich heute bitte liebhaben mögen, was sie taten: Alles ging, ich teilte mein Handout aus und hielt mein Referat, von dem ich bis eine Sekunde nach dem „Danke für eure Aufmerksamkeit“ nicht wusste, ob es totaler Quatsch war. War es anscheinend nicht, denn nachdem ich fertig war, drehte sich der Dozent zu der Kommilitonin von vorhin um und meinte: „Um Ihre Frage noch mal zu beantworten: So stelle ich mir ein gutes Referat vor.“

Ich war äußerlich natürlich professionell unbeeindruckt, aber eigentlich war ich Beckerfaust und innerer Reichsparteitag.

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Gelernt: Ich kann anscheinend in zwei Wochen ein ziemlich gutes Referat hinkriegen. Dafür komme ich aber nicht mehr zum Bloggen, zu Museumsbesuchen oder zum entspannten Biergartensitzen. Daher bleibe ich lieber bei meinem Drei-Wochen-Rhythmus. Dann bin ich auch weitaus ausgeglichener und muss vor allem keine Jobs für Geld absagen, was ich letzte Woche in meiner Unizeit das erste Mal getan habe, weil ich meinem Kopf und meinem Zeitplan schlicht kein Platz mehr war.

Und jetzt stürze ich mich wieder ins nächste Referat, dieses Mal über die Gartenlaube. Ich freue mich schon sehr auf das Buch über die Mund- und Kieferheilkunde in dieser Publikation.