„Je mehr die Aufgabe der Denkmalpflege im Konservieren gesehen wurde und nicht mehr im Restaurieren, und je mehr die Architekten sich der Moderne zuwendeten und dem Historismus abschworen, desto mehr wurden Selbstverständnis und Theorie der Denkmalpflege von den Kunsthistorikern bestimmt. Zwei Kunsthistoriker, Alois Riegl und Georg Dehio, waren es auch, die kurz nach der Jahrhundertwende [zum 20. Jahrhundert] versuchten, nicht nur die prinzipielle Notwendigkeit der Denkmalpflege neu zu begründen, sondern auch sach- und zeitgerechte Kriterien dafür zu finden, was eigentlich ein Denkmal ausmacht. Die alten Argumente reichten ja nicht aus, wenn es nicht mehr darum ging, eine alte Kirche fertig- oder eine Burg wieder aufzubauen, sondern darum, den unfertigen Zustand der Kirche zu konservieren und die Burg gerade als Ruine zu schützen und zu erhalten.
Die Kunstgeschichte, die der Denkmalpflege die neuen Paradigmen liefern sollte, kämpfte um 1900 selbst noch um Identität und Eigenständigkeit. Was konnte dabei eine bessere Waffe sein als das von der avancierten Kunst geteilte Postulat, das eigentliche Wesen von Kunst sei Form? Und was konnte die oft bezweifelte Wissenschaftlichkeit des neuen Faches besser untermauern als die These, Form entwickele sich nach einer nur ihr eigenen, immanenten Gesetzlichkeit, die im Prinzip genauso objektiv feststellbar sei wie die der Natur?
Einer der Protagonisten in diesem Kampf war Alois Riegl. Georg Dehio dagegen, aus damaliger Sicht der Konservativere, ging zu solchen Tendenzen auf Distanz: „Zur Zeit beschäftigt uns meistens die Erforschung der inneren Kunstgesetze und die aus ihnen hervorgehende Stilentwicklung. Diese Betrachtungsweise verleugnet nicht das geschichtliche Moment, das in dem Begriff der Entwicklung schon gegeben ist, aber sie beschränkt es. Ihr erscheint die Kunst als eine autonome Macht. Sie fragt wenig, zu wenig, nach den anderen geistigen Mächten, in deren Umgebung die Kunst ihr geschichtliches Leben führt und von denen sie mitbedingt wird, sie fragt noch weniger nach den materiellen Voraussetzungen. Sie gibt eine Geschichte des künstlerischen Denkens, nicht eine vollständige Darlegung des wirklichen Verlaufes in seinen verwickelten Kausalzusammenhängen.“
[Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze, München/Berlin 1914, S. 67. Der zitierte Aufsatz heißt Deutsche Kunstgeschichte und deutsche Geschichte, ist in der Historischen Zeitschrift 100 im Jahr 1908 erschienen, und wenn ihr auf die Digizeitschriften zugreifen könnt, steht er hier auf S. 473. Oder bei jstor.]
Riegls Aufsatz „Über den modernen Denkmalkultus“ [von 1903] ist zwar als Erläuterungs- und wohl auch Werbetext für ein neues Gesetz geschrieben, stellt den Leser aber bis heute vor beträchtliche Schwierigkeiten. Trotz scheinbar streng rationaler Begriffsbildung und Gedankenführung bleibt der Text auf weite Strecken hermetisch. Riegl geht von einer Reihe axiomatischer Prämissen aus, die keineswegs immer zureichend erklärt oder gar begründet werden. Die zur Abstraktion drängenden Kunsterfahrungen des Jugendstils spielen dabei ebenso eine Rolle wie die ästhetische Faszination durch eine deterministisch verstandene Naturwissenschaft. Früher, so Riegl, habe Denkmalpflege auf dem Kunst- und dem Erinnerungswert ihrer Objekte aufbauen können. Dieser Werte aber hätten sich überlebt. Ein neuer Wert müsse an ihre Stelle treten, der Alterswert. Wie der Erinnerungswert das 19., so werde er das 20. Jahrhundert beherrschen. Vor allem aber: der Denkmalwert eines Gebildes könne nicht aus seiner Bedeutung in der Vergangenheit bestimmt werden, sondern ausschließlich aus seiner Bedeutung für die Gegenwart. Riegl, und das ist sein fundamentaler Beitrag zur Theorie und Programmatik der Denkmalpflege, hat die Illusion zerstört, daß es so etwas wie objektive, ein für allemal gegebene Eigenschaften gäbe, die ein Gebilde zum Denkmal machten. Ob, inwiefern und wofür etwas Denkmal ist, das entscheidet sich – so Riegls grundlegende Erkenntnis – nicht bei seiner Entstehung, sondern in seiner Rezeption.“
Huse, Norbert (Hrsg.): Denkmalpflege: Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 2006 (3. Aufl.), S. 124–126.
—
Wem die englischsprachigen Biografien zu kompliziert sind, hier die Deutsche Biographie über Riegl und Dehio.