Über die Rezeption

„Wir betrachten nicht das Bild, noch betrachten wir uns das Bild, sondern wir lassen den Eindruck zu, als betrachte es uns. Man könnte den Zustand als eine schwebende Illusion bezeichnen, in welchem Kunstwerk und Betrachter in einem spielenden Verhältnis stehen.

Aus diesem Grunde geht es mir nicht darum, einzelne Autoren der Kunstphilosophie oder der Kunsttheorie anhand einzelner Werke ausführlich zu interpretieren. Es geht nicht um die Rekonstruktion und Analyse der bekannten Thesen zwischen Kunstwerk und Rezipient. Auf dem höchsten Punkt der Rezeption wird der Rezipient im eingebildeten Zwiegespräch mit dem Bild beim Versuch, dessen stillschweigenden Anspruch wortlos zu entsprechen, zu einem (Mit-)Produzenten. Bereits an dieser Stelle sei vorweggenommen: Das Bild ist nie die Illustration eines Sinnes, der sich auch sagen und schreiben ließe. Das ästhetisch Bedeutende hat keinen Sinn, es gibt und bildet Sinn und macht Sinn für den Betrachter – oder auch nicht. Das Bild bleibt ohne eine Begründung im Inneren des Betrachters leer und ist ebenso auf die gesellschaftliche Vermittlung angewiesen.

Die Lust des ästhetischen Augenblicks hat in sich selbst die Bestimmung zur Genauigkeit des Gefühls und also zur Exaktheit der Phantasie. (…) Die unablässige Sehnsucht, dass die Bilder sprechen sollen, obwohl sie es zumindest mit der uns allbekannten Sprache nicht können und sie also schweigen und dennoch mehrdeutig sein können, ist bereits eine platonische Erfahrung. Auch die Sprache ist nicht einfach dazu da, Gedanken auszudrücken, sondern Gedanken zu ermöglichen, die ohne sie gar nicht existieren könnten (Bertrand Russell). Andererseits sagt ein Bild mehr als tausend Worte (Tucholsky). Lässt sich der Satz so wenden, dass zu sagen ist, ‚ein Bild sind tausend Worte‘?“

Obraz, Melanie: Das schweigende Bild und die Aussagekraft des Rezipienten in Bezug auf ästhetische und ethische Werturteile. Grundlagen für eine phänomenologisch ausweisbare Kunstphilosophie, Berlin 2006, S. 2–3.

Über Beuys

Armin Zweite über Voglio vedere le mie montagne (1971):

„[I]n ihnen[, den Gegenständen,] manifestiert sich eine Fülle komplexer Beziehungen, die Gestaltungsprinzipien thematisieren: das Offene und das Geschlossene, das Bearbeitete und das Unbearbeitete, Organisches und Anorganisches, Sichtbares und Unsichtbares (der Kasten enthält einen Fetzen gelben Tuchs und einen Knochen), Kristallines und Amorphes, das Aufgerichtete und das Liegende, Eckiges und Rundes usw. In solcher Anordnung, die immer wieder den Zufall unterläuft, erweist sich aufs neue die Meisterschaft von Beuys, selbst die obsoletesten und disparatesten Dinge durch Kombinationen und ausponderierte Zusammenstellung in ein Beziehungsgefüge zu rücken, das das krude Zeug nobilitiert, und zwar zunächst und vor allem durch formale und materiale Korrespondenz oder deren Verkehrung ins Gegenteil. Eine Regie wird spürbar, die Sperriges und Zartes, Voluminöses und Unscheinbares, Kompaktes und Filigranes, Festes und Weiches auf einen gemeinsamen Nenner bringt, insofern die Lebenswelt desjenigen zu spüren ist, der hier auswählte, veränderte, bearbeitete und arrangierte.

Aber dieser individuelle Horizont des Künstlers ist nicht das Entscheidende. Der Betrachter, ohne allein seinen Augen vertrauen zu wollen, nimmt die Besetzung und Artikulation des Raumes physisch wahr und ertastet gleichsam Differenzen von Oberflächen und Volumen, und er meint dabei einen prähistorischen Schauer zu verspüren, der dieses veraltete Inventar aus bürgerlichem Schlafzimmer und trister Werkstatt umwittert, dieses halb rätselhafte, halb vertraute Ambiente, dem er sich allenfalls durch eine brüchig gewordene Tradition verbunden weiß. Worauf Beuys hier anspielt, hat Walter Benjamin in seinem Passagenwerk so beschrieben, „daß zwischen der Welt der modernen Technik und der archaischen Symbolwelt der Mythologie Korrespondenzen spielen, … daß die Merkwelten sich immer schneller zersetzen und das Mythische in ihnen immer schneller und krasser zum Vorschein kommt …“ Zwar glauben wir zu kennen, was wir sehen, aber der Zusammenhang der Dinge, der einer eigenen Logik zu folgen scheint, läßt die Evidenz ins Rätsel umschlagen. So manifestieren sich in dem ausrangierten Zeug Momente von Trauer. Die aus ihren Funktionszusammenhängen gelösten Sachen werden in ihrer neuen Umgebung fremd und durch die Namensgebung zu Teilen eines dunklen Bildes. Aus der Lebenswelt eliminiert, beunruhigen die Dinge und offenbaren in der Reduktion auf ihr materielles Substrat einerseits und in der Spiritualisierung bzw. Verrätselung andererseits eine mythische Qualität.“

Zweite, Armin: „Prozesse entlassen Strukturen, die keine Systeme sind.“ Anmerkungen zu einigen raumbezogenen Arbeiten von Joseph Beuys, in: Bastian, Heiner (Hrsg.): Joseph Beuys. Skulpturen und Objekte, München 1988, S. 70/71.

Zwei Hausarbeiten

Wochenende – Zeit für ein bisschen Bildung. Anbei findet ihr meine ersten beiden Hausarbeiten, die ich in Kunstgeschichte geschrieben habe, denn Wissen ist schließlich für alle da.

Die erste Hausarbeit heißt „Andacht, Repräsentation und Erinnerung: Drei Bildwerke Memlings und ihre Funktion“. Auf diese Arbeit habe ich eine LAUSIGE 1,7 bekommen, was ich vor allem einem nicht vorhandenen Abbildungsverzeichnis zu verdanken habe. Ich habe mich natürlich brav an alle Angaben zur Erstellung einer Hausarbeit gehalten, die die Uni mir ans Herz gelegt hat, aber dort stand die verführerische Formulierung „Abbildungen können mitgeliefert werden“ (Hervorhebung von mir), was für mich hieß: Sie müssen nicht. Und meine Dozentin ist ja klug und weiß, worum’s geht, also lasse ich das. Hätte ich mal gefragt.

Zweiter Kritikpunkt waren fehlende biografische Angaben und zu kurze Bildbeschreibungen. Die Werke, um die es geht, findet ihr einerseits in meinem Blogeintrag zum Referat über das gleiche Thema (Diptychon des Maarten van Nieuwenhove sowie das Bildnis eines alten Ehepaars), andererseits hier, denn in der Arbeit spreche ich auch über Zwei Flügel mit den Bildnissen des Willem Moreel und der Barbara von Vlaenderberch.

Die zweite Hausarbeit trägt den schönen Titel „Der finale Bruch mit der Klassik: Alexander Archipenkos Schreitende Frau“ und findet sich hier. Sie hat ein fettes Abbildungsverzeichnis, total tolle biografische Angaben, eine irrwitzig ausführliche Werkbeschreibung – und wurde mit 1,3 benotet. WHAT DOES A GIRL HAVE TO DO? Hier gab es eigentlich nur einen richtigen Fehler, den ich gemacht habe: In der Einleitung spreche ich von „massiven“ Werken. Das ist bei Bronze natürlich Blödsinn; worauf ich hinaus wollte, waren Werke mit einer geschlossenen Oberfläche.

Viel Spaß beim Lesen. Ich hatte jedenfalls ne Menge Spaß beim Schreiben.

Kunstgeschichte live

(Very long, read anyway.)

Ich erwähnte in meinem ersten Blogeintrag zum neuen Semester eines meiner Seminare „Provenienzforschung. Einführung, Überblick, Perspektiven“ und was wir dort so lernen. Es erhält durch den Kunstfund in München gerade natürlich eine sehr aktuelle Dimension, die auch im Kurs diskutiert wurde.

In den ersten Sitzungen sprachen wir über die Hintergründe von Restitution – also die Rückgabe oder Erstattung von Kulturgütern, die verfolgungsbedingt entzogen wurden. (Mit dieser Formulierung umgeht man das unschöne Wort „Raubkunst“, das zum Beispiel Kunsthandwerk, Möbel oder Bücher nicht einbezieht, die natürlich auch massenweise geraubt wurden.) Wir lernten die Washington Principles kennen, in denen 1998 eine Übereinkunft zwischen verschiedenen Ländern erreicht wurde, wie mit diesen Kulturgütern zu verfahren sei. Dort steht unter anderem, dass nicht restituierte Güter identifiziert, öffentlich gemacht werden und Anstrengungen unternommen werden sollten, sie zurückzugeben. Dort steht aber auch, dass man die Umstände des Holocaust (Ausrottung kompletter Erbenfamilien) und die inzwischen verstrichene Zeit nicht vergessen sollte. Angestrebt werden „gerechte und faire“ Lösungen, die auch finanzielle Entschädigungen bedeuten können.

Wir lernten die Website Lost Art kennen, auf der die Bundesrepublik ein Register geschaffen hat, in dem Kulturgüter als vermisst oder aufgefunden gemeldet werden können. Auf der Seite finden sich zusätzlich diverse Hilfsmittel zur Provenienzrecherche, zum Beispiel eine kleine Auflistung der Reichsgesetze, mit denen der Entzug von Kulturgütern rechtlich verbrämt wurde oder eine sehr ausführliche und stets aktuelle Bibliografie zu Raub- und Beutekunst.

Vergangenen Mittwoch fand im Zentralinstitut für Kunstgeschichte ein Kolloquium zum Thema statt, das uns Kursteilnehmern und -teilnehmerinnen dringend ans Herz gelegt wurde. Zu Recht, denn das waren sehr spannende vier Stunden. Verschiedene Redner und Rednerinnen informierten über den Forschungsstand bzw. ihre Projekte. So berichtete eine Mitarbeiterin der Bayerischen Staatsbibliothek über ihre Versuche, Bücher zu restituieren, die damals direkt von der Gestapo eingeliefert wurden (so nach dem Motto, wir haben hier ein paar Kisten Bücher, enjoy), bei denen sie anhand von Widmungen und Einwohnerdaten versuchte, die Besitzer herauszufinden. Auch das klang schon im Seminar an: Die verschiedenen Arten, wie Kulturgüter entwendet und weitergegeben wurden. In meinem Referat habe ich mich mit der Datenbank German Sales 1930–1945 befasst, in der 3.000 Auktionskataloge digitalisiert und als durchsuchbare Textdateien aufbereitet wurden. Ich lernte unter anderem, dass Auktionen nicht nur von Auktionshäusern durchgeführt wurden, sondern teilweise von Zoll und Gestapo, die ganz simpel die Container öffneten, die am Hamburger Hafen standen, während ihre Besitzer ausreisten (hoffentlich). Wenn jüdische Familien verschleppt wurden, fielen ihre Wohnungen an die Finanzämter der jeweiligen Städte, die gemeinsame Sache mit den Gerichtsvollziehern machten und unter der Hand Güter losschlugen. Die US-amerikanische Militärregierung schätzt, dass seit 1941 über 15.000 Versteigerungen stattgefunden haben; daher sind die 3.000 Kataloge nur ein winziger Einblick in die Massen von Waren, die geraubt und verkauft wurden. (Mehr zu diesem Thema steht hier; meine Infos habe ich auch aus diesem Text.)

Ein weiterer Vortrag auf dem Kolloquium berichtete über „Russische Kunst in deutscher Hand – Ansichten zu einer Ausstellung in Pskov 1943“, wo es um russische Kunst ging, die von Deutschen zusammengetragen wurde (ich hoffe, ich erinnere mich richtig). Der sogenannte militärische Kunstschutz war – in Verkennung seines eigentlichen Auftrags, siehe den Wikipedia-Link – in den besetzten Gebieten dafür zuständig, Kunst für deutsche Museen zusammenzutragen; dabei wurde anfangs weitaus mehr Sorgfalt gewahrt als in den letzten Kriegsjahren, wo zum Beispiel Bilder teilweise aus den Rahmen gerissen und mitgenommen oder Werke schlicht zerstört wurden, um sie der näherrückenden Roten Armee zu entziehen. Die Werke, die für die Ausstellung zusammengetragen wurden, stammen auch aus verschiedenen Quellen, die wiedergefunden werden müssen. Und Teile davon landeten wahrscheinlich in deutschen Museen, wo sie heute unbehelligt ausgestellt werden. Ein Problem der Zäsur 1945: Teilweise wurden Kulturgüter vor Kriegsende in Depots geschafft, um sie vor Zerstörung zu schützen, aber erst nach Kriegsende in Museen oder Bibliotheken inventarisiert. Es ist teilweise nicht mehr feststellbar, wann ein Kunstwerk wohin eingeliefert wurde geschweige denn, woher es stammt.

Den vorletzten Vortrag des Kolloquiums hielt eine unserer Dozentinnen, deren Dissertation zum Thema auch als Buch Kunsthandel im Nationalsozialismus: Adolf Weinmüller in München und Wien erhältlich ist (Affiliate Link). Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Auktionshaus Weinmüller, deren heutige Leiterin als einzige (!) von allen Auktionshäusern Deutschlands die Geschichte ihres Hauses erforschen lässt. Der Rest war wahrscheinlich zwölf Jahre lang irgendwie nicht da.

Der letzte Vortrag führte dann wieder in die Gegenwart – es ging um den Datenschutz bei der Provenienzforschung. So gibt es durchaus Nachfahren, die den Namen ihrer Großeltern aus der Datenbank von Lost Art haben entfernen lassen, weil sie nicht möchten, dass irgendjemand sieht, dass Opa Raubkunst gekauft hat. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie weit das Allgemeinwohl bzw. die Aufklärung Vorrang hat vor Persönlichkeitsrecht. Über Lost Art wurde auch in der anschließenden Diskussion gesprochen: Es wurde ein Fall eines Gemäldes skizziert, das zweimal als vermisst gemeldet wurde – von einem ersten Besitzer, der es (die Zahlen sind erfunden, aber die Richtung stimmt) 1935 verkaufen musste und einem zweiten, der es 1938 verkaufen musste. Wem gehört das Bild? Wessen Leiden ist größer, wer hat mehr Anspruch darauf?

Das war der Mittwoch. Ich bereitete lustig mein Referat vor, das ich Montag halten sollte, als Sonntag plötzlich die Nachrichten über den Münchner Kunstfund aufschlugen. (Nebenbei, liebe effektheischende Headlines: „Nazikunst“ ist es eben nicht.) Im Laufe des Tages schickten unsere Dozierenden auch lustig Mails mit den Schlagzeilen rum, und die Begrüßung am Montag ging in die gleiche Richtung: „Wenn Sie geglaubt haben, dass Kunstgeschichte ein Orchideenfach im Elfenbeinturm ist, lernen Sie gerade dazu.“ Und 30 Menschen im Proseminar hatten auf einmal einen neuen Berufswunsch.

Wieder gab es Referate, unter anderem meins – wenn ihr selbst mal lustig durch alte Kataloge suchen wollt: hier ist die Suchmaske des Getty Provenance Index, hier die der UB Heidelberg, die 200.000 Katalogseiten eingescannt hat. (Edit:) Man kann bei der UB Heidelberg übrigens auch nach Stichworten suchen: Bei „arisch“ erhält man des Öfteren den Hinweis auf „nicht-arische“ Güter, die versteigert wurden. Dieser Hinweis musste ab 1938 (? Nagelt mich nicht auf das Jahr fest) angegeben werden, war aber gleichzeitig ein verklausulierter Hinweis darauf, dass diese Gegenstände wahrscheinlich günstiger zu haben sind als „arische“.

Ein weiteres Referat zeigte die Datenbanken des Deutschen Historischen Museums in Berlin, bei dem man durch die Sammlung Hermann Görings suchen, alle Karteikarten des Central Collecting Points in München angucken oder sich mit den Stücken des „Sonderauftrag Linz“ befassen kann. Im Central Collecting Point wurden alle Güter der amerikanischen Besatzungszone zusammengetragen; der Sonderauftrag Linz galt einem zu errichtenden Museum in Linz, mit dem Hitler Wien Konkurrenz machen wollte, das ihn ja nicht als Maler hatte haben wollen. (Historisch halbwegs fundierte Küchenpsychologie.)

Ein weiteres Referat befasste sich dann mit der internationalen Provenienzforschung. Das klang in einigen Zeitungsartikeln an, dass Deutschland sich gefälligst mal mehr Mühe geben sollte, wenn’s um Restitution ginge. Ich würde vorsichtig behaupten, dass Deutschland das inzwischen tut, obwohl es der ehemaligen Bundesrepublik ziemlich lange ziemlich egal war und es auch nicht als selbstverständlich oder moralische Verpflichtung ansah; Umfragen Anfang der 50er Jahre sahen Wiedergutmachung nicht als zentrales Anliegen, das änderte sich aber netterweise in den letzten Jahrzehnten. In der DDR widersprach die Restitution der „Politik der Sozialisierung des Volkseigentums“ (1); zusätzlich gingen in den sowjetisch besetzten Gebieten Kunstwerke direkt nach dem Krieg eher in Richtung Moskau als in Richtung Schwerin, Berlin oder Dresden, genau wie komplette Fabriken, wir erinnern uns an die lustigen Reparationen. Auf der Holocaust Era Asset Conference 2009 in Prag wurde erstmals festgehalten, welche Länder sich besonders oder überhaupt nicht hervortun bei der Provenienzrecherche. Die vier Länder, die major progress gemacht haben, sind Österreich, die Tschechische Republik, Deutschland und die Niederlande. Vielleicht überraschend, aber in der letzten Gruppe („countries that do not appear to have made significant progress towards implementing the Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art“) befinden sich unter anderem Italien und Spanien, denen bekannt ist, dass sie „Raubkunst“ in ihren Museen haben, es aber anscheinend nicht ändern möchten.

In Deutschland gibt es, wie erwähnt, Lost Art als zentrale Anlaufstelle für diese Kulturgüter. Die Datenbank ist zwar nett, hat aber natürlich das Problem, dass sie nur funktioniert, wenn ihr Daten zur Verfügung gestellt werden. Wenn man unter dem Menüpunkt „Datenbank“ weiterklickt zu Bayern – Melder/Fund – Staatliche Gemäldesammlung – Objektgruppen – Malerei (125 Objekte) gelangt man zwar zu einer hübschen Liste, aber die steht auch nur da, weil die Gemäldesammlung jemanden hat, der oder die Zeit und Ahnung hat, diese Liste zu erstellen. Die Gemäldesammlung hat übrigens gleichzeitig 607 Gemälde als vermisst gemeldet. Gegenbeispiel: Das Ministerium für Kultur und Nationalerbe in Warschau hat gerade ein Bild in ganz Polen als vermisst gemeldet, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das die Zahl der fehlenden Kunstwerke im Land ist. Das meine ich mit „dafür muss man Zeit, Kenntnisse und Mittel haben“.

Das Musées Nationaux Récupération in Frankreich hat eine recht clever gestaltete Website, bei der man sich durch Kunstwerke klicken und nachschauen kann, ob sie bereits restituiert wurden oder nicht. Hier ist die Startseite, bei der man die teilweise nachlässig gefüllten Raume des Jeu de Paume während der Besetzung von Paris sieht; klickt man einen Raum an, sind dort wiederum die Werke klickbar und sogar perspektivisch entzerrt, so dass man auch so nach ihnen suchen kann. Die Links führen zum errproject, bei dem „20.000 während der deutschen Besetzung in Frankreich und Belgien geraubte Kunstobjekte registriert sind“ (Zitat von hier).

In Österreich liegt die Datenbank beim Nationalfond für Opfer des Nationalsozialismus, in den Niederlanden bei Herkomst Gezocht (Herkunft unbekannt).

Ich beschäftige mich gerade seit vier Wochen mit diesem Themenkomplex und bin durch den Kunstfund von München gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt davon, was in dem Bereich passiert bzw. wie die Öffentlichkeit reagiert. Bei den üblichen Verdächtigen im Spon-Forum las ich zum Beispiel, dass man dem Sammler dankbar sein müsste, weil er die Werke vor den Nazis gerettet habe. Okay, Hase: Geh bitte vor die Tür, denk kurz nach und dann komm noch mal rein. Außerdem kamen natürlich des Öfteren die Klassiker „Es muss doch irgendwann mal gut sein“ und „Aber die Russen haben uns auch beklaut“, was beides bei kurzsichtiger Betrachtungsweise berechtigt scheint, was aber die Einzigartigkeit des Holocausts und seiner Begleitumstände verkennt. Wenn man sich durch die diversen Reichsgesetze und Verordnungen liest, wird klar, dass hier eine Volksgruppe systematisch um ihren Besitz gebracht werden sollte. Und wenn wir als Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen auch nur ein winziges bisschen dazu beitragen können, dieses Unrecht in Ansätzen zu mildern, dann ist es eben nicht irgendwann mal gut, denn es kann nicht irgendwann mal wieder gut sein.

„Der Wert des Lebens ist weder in Ziffern auszudrücken noch in Gold aufzuwiegen. Er ist nicht quantifizierbar und insofern auch nicht verhandelbar. So kommt es, dass mit der Rede über Sachen die Rede über die ermordeten Menschen ersetzt wird. Sie wird diskursiv substituiert. Den restituierten Dingen ist der Schatten der einst über sie verfügenden Menschen eingeschrieben.

Der Genozid zieht eine merkwürdige, eine kategoriale Transformation nach sich: Die Transformation von individuell nicht mehr zu realisierenden privateigentümlichen Ansprüchen in den kollektiven Anspruch einer sich hierfür konstituierenden Körperschaft. Hier handelt es sich um die Körperschaft eines „jüdischen Volkes“, das – als kollektive Rechtsnachfolge erbenlos gemachten individuellen Eigentums – Anspruch erhebt und darin von anderen, vor allem aber von den Beanspruchten, anerkannt wurde. (…)

Das durch den Charakter dieses Genozids individuell nicht mehr restituierbare, erbenlose Eigentum hatte sich aus ethischen Gründen – um das Geraubte nicht einfach den Mördern und Räubern zu überlassen und somit die Aneignung durch Unterlassen womöglich noch zu rechtfertigen – notwendig in ein kollektives jüdisches Gut verwandelt.“ (2)

(1) Goschler, Constantin: Zwei Wellen der Restitution: Die Rückgabe jüdischen Eigentums nach 1945 und 1990, in: Bertz, Inka, Dorrmann, Michael (Hrsg.): Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute, Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main; 19. September 2008 bis 25. Januar 2009 (Berlin), 22. April bis 2. August 2009 (Frankfurt am Main)], S. 30.

(2) Diner, Dan: Restitution. Über die Suche des Eigentums nach seinem Eigentümer, ebd., S. 18/19.

Kunstkataloge online

Open Culture weist auf zwei Museen hin, die einen Berg von Katalogen online und umsonst zum Lesen (sowie teilweise zum Download) anbieten. Das passt zu meiner derzeitigen Vorlesung „Amerikanische Kunst nach 1945“ hervorragend.

Hier geht’s zum Guggenheim-Museum, bei dem man 65 Kataloge online lesen kann. Bei Archive.org findet man die Schätze auch zum Runterladen.

Und im Metropolitan warten ganze 394 Kataloge auf euch.

Vielen Dank an Schneefreundin, die mich per Twitter auf diese Schätze aufmerksam gemacht hat.

Descending

nude_descending

Marcel Duchamp, Nude Descending a Staircase No. 2 (Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2), 1912. Öl auf Leinwand, 147 × 89,2 cm, Philadelphia Museum of Art. Das Bild wurde erstmals auf der Armory Show 1913 in New York gezeigt.

rude_descending

J.F. Griswold, The Rude Descending a Staircase, New York Evening Sun, März 1913.

Das war eine der schönen Folien aus der Vorlesung zur amerikanischen Kunst nach 1945. Es gab auch noch eine Pril-Werbung, die sich über Jackson Pollock lustig macht, aber die war doof.

Über die Moderne

„Der Rest des Abstrakten im Begriff der Moderne ist sein Tribut an diese. Wird unterm Monopolkapitalismus weithin der Tauschwert, nicht mehr der Gebrauchswert genossen, so wird dem modernen Kunstwerk seine Abstraktheit, die irritierende Unbestimmtheit dessen, was es sein soll und wozu, Chiffre dessen, was es ist. Solche Abstraktheit hat nichts gemein mit dem formalen Charakter älterer, etwa den Kantischen ästhetischen Normen. Vielmehr ist sie provokativ, Herausforderung der Illusion, es wäre noch Leben, zugleich Mittel jener ästhetischen Distanzierung, die von der traditionellen Phantasie nicht mehr geleistet wird. Von Anbeginn war ästhetische Abstraktion, bei Baudelaire noch rudimentär und allegorisch als Reaktion auf die abstrakt gewordene Welt, eher ein Bilderverbot. Es gilt dem, was schließlich die Provinzialen unterm Namen der Aussage sich herüberzuretten hofften, der Erscheinung als einem Sinnhaften: nach der Katastrophe des Sinns wird Erscheinung abstrakt. Solche Sprödigkeit ist, von Rimbaud bis zur gegenwärtigen avantgardistischen Kunst, äußerst bestimmt. Sie hat so wenig sich geändert wie die Grundschicht der Gesellschaft. Abstrakt ist die Moderne vermöge ihrer Relation zum Dagewesenen; unversöhnlich dem Zauber, kann sie nicht sagen, was noch nicht war, und muß es doch wider die Schmach des Immergleichen wollen: (…)

Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert; Explosion ist eine ihrer Invarianten. Antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wirbel. Insofern ist Moderne Mythos, gegen sich selbst gewandt; dessen Zeitlosigkeit wird zur Katastrophe des die zeitliche Kontinuität zerbrechenden Augenblicks; Benjamins Begriff des dialektischen Bildes enthält dies Moment. Selbst wo Moderne traditionelle Errungenschaften, als technische, festhält, werden sie aufgehoben von dem Schock, der kein Ererbtes unangefochten läßt. Wie die Kategorie des Neuen aus dem historischen Prozeß resultierte, der die spezifische Tradition zuerst und dann eine jegliche auflöste, so ist Moderne keine Aberration, die sich berichtigen ließe, indem man auf einen Boden zurückkehrt, der nicht mehr existiert und nicht mehr existieren soll (…).“

Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, S. 39–41, in: Tiedemann, Rolf (Hrsg.), Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 2003.

Über das Wesen der Kunst

„Ungewiß, ob Kunst überhaupt noch möglich sei; ob sie, nach ihrer vollkommenen Emanzipation, nicht ihre Voraussetzungen sich abgegraben und verloren habe. Die Frage entzündet sich an dem, was sie einmal war. Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre. Damit tendieren sie a priori, mögen sie noch so tragisch sich aufführen, zur Affirmation. Die Clichés von dem versöhnenden Abglanz, der von der Kunst über die Realität sich verbreite, sind widerlich nicht nur, weil sie den empathischen Begriff von Kunst durch deren bourgeoise Zurüstung parodieren und sie unter die trostspendenden Sonntagsveranstaltungen einreihen. Sie rühren an die Wunde der Kunst selber. Durch ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung, eine Säkularisierung, ohne welche Kunst nie sich entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu, dem Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der, bar der Hoffnung auf ein Anderes, den Bann dessen verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte. Solchen Zuspruchs ist das Autonomieprinzip selbst verdächtig: indem es sich vermißt, Totalität aus sich zu setzen, ein Rundes, in sich Geschlossenes, überträgt dies Bild sich auf die Welt, in der Kunst sich befindet und die diese zeitigt. Vermöge ihre Absage an die Empirie – und die ist in ihrem Begriff, kein bloßes escape, ist ein ihr immanentes Gesetz – sanktioniert sie deren Vormacht. Helmut Kuhn hat in einer Abhandlung, zum Ruhm der Kunst, dieser attestiert, ein jedes ihrer Werke sei Lobpreisung (1). Seine These wäre wahr, wenn sie kritisch wäre. Angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden. Sie muß gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht, und wird dadurch ungewiß bis in die innerste Fiber hinein. Nicht jedoch ist sie durch ihre abstrakte Negation abzufertigen. Indem sie angreift, was die gesamte Tradition hindurch als ihre Grundschicht garantiert dünkte, verändert sie sich qualitativ, wird ihrerseits zu einem Anderen. Sie vermag es, weil sie die Zeiten hindurch vermöge ihrer Form ebenso gegen das bloß Daseiende, Bestehende sich wendete, wie als Formung der Elemente des Bestehendem diesem zu Hilfe kam. So wenig ist sie auf die generelle Formel des Trostes zu bringen wie auf die von dessen Gegenteil.

(1) Vgl. Helmut Kuhn, Schriften zur Ästhetik, München 1966, S. 236 ff.“

Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, S. 10/11, in: Tiedemann, Rolf (Hrsg.), Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 2003.

Über Zufall

„(…) hier wie dort steht der Gedanke im Vordergrunde, daß so der Zufall dem Maler zu Hilfe komme. Als Ausgangspunkt dieser durch zahlreiche antike Quellen verstreuten Berichte darf wohl der Vergleich der Formen des Zufalls mit denen, die der Künstler schafft, gelten. in der Biographik der Renaissance wird diese Erscheinung in ein anderes Licht gerückt. Piero di Cosimo sei (nach Vasari IV, 134) bisweilen stehengeblieben, „um eine Wand zu betrachten, auf die Kranke gespieen hatten und schuf sich daraus Reiterschlachten, die seltsamsten Städte und die größten Landschaften, die man je sehen konnte. Ähnlich tat er es bei Wolken“. Hier also bietet das Gebilde des Zufalls dem Künstler den Anlaß, seine Phantasie zu entfalten, um in die Zufallsbildungen Getalten hineinzusehen. Man könnte vermuten, daß es sich um ein Stück persönlicher Eigenart des Piero handle, dessen Biographie in Vasaris Schilderung an absonderlichen Zügen reich ist. Aber, was uns Vasari über seine Versuche, Zufallsgebilde zu deuten, berichtet, hat in der Zeitanschauung einen festen Platz: Leonardo da Vinci hat in seinen Aufzeichnungen die Deutung nasser Flecke an den Wänden zur Übung empfohlen, um die Einbildung des Künstlers rege zu erhalten; man darf sogar die Vermutung aussprechen, daß Piero, dessen künstlerische Abhängigkeit von Leonardo gesichert ist, die Anregung zu seinem Verfahren von ihm empfangen habe (…). Die Anweisung des Leonardo steht nicht isoliert. Eine großartige Weite der Beziehung wird faßbar, wenn wir erfahren, daß der chinesische Maler Sung-Ti (11. Jahrhundert) dem Ch’ên Yung-chih den Rat gibt, ein Landschaftbild nach den Anregungen zu gestalten, die ein zerfallene Mauer seiner Phantasie nahebringt. „Dann“, sagt er, „magst Du Deinen Pinsel Deiner Phantasie folgend spielen lassen und das Ergebnis wird himmlisch, nicht menschlich sein.“ (…)

Stellt die antike Biographik die Zufallsbildung als gleichberechtigt neben das Werk des Künstlers, dem sie ein Zufall zuweilen einfügt, so soll sich für die Vorstellung eines Leonardo an ihnen Schöpferkraft und Phantasie des Künstlers schulen. Einem gleichartigen Gedanken hat Goethe vor einer bestimmten Gruppe von Zufallsbildungen, den Wolken, Ausdruck gegeben:

„Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft.“
Howards Ehrengedächtnis

(Wer historische Perspektiven liebt, mag ein weiteres Glied anfügen: Was Leonardo empfiehlt, um die Schöpferkraft zu üben, hat die Experimentalpsychologie unserer Tage aufgegriffen – im Formdeutungsversuch von Zufallsgebilden nach Rorschach –, um eine menschliche Anlage zahlenmäßig faßbar und zu psychodiagnostischen Zwecken verwertbar zu machen.)“

Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1995, S. 72/73. Die Erstausgabe des Textes erschien 1934.

Kunst gucken: Gemäldegalerie Berlin

Unsere Dozierenden lassen gefühlt in jeder dritten Sitzung folgenden Text los: „Geht ins Museum, geht ins Museum, geht jede verdammte Woche in ein verdammtes Museum, verdammt noch ma!“ Okay, sie fluchen weniger und siezen uns, aber bei mir kommt diese Aussage an. Und seitdem ich gestern in der Gemäldegalerie war, weiß ich auch, warum sie so quengeln.

Rogier van der Weyden, „Junge Frau mit Flügelhaube“, 47 × 32 cm, Öl auf Eichenholz, um 1435/40, hier in riesengroß und in toller Qualität beim Google Art Project. Hier noch mehr aus der Gemäldegalerie.

Vorneweg: Meine Güte, hängt in der Gemäldegalerie tolles Zeug. Ich hätte gerne ein zweites Paar Augen und Füße gehabt, denn unter anderem die Niederländer des 16. und 17. Jahrhunderts habe ich sträflich vernachlässigt, weil ich wusste, dass noch Reynolds und Gainsborough und Poussin und Watteau und Giotto und Mantegna kommen. Da wurden van Dyck und Rubens nur kurz angeguckt, Vermeer und Rembrandt habe ich nicht mal gesehen, weil ich noch diverse Räume vor mir hatte – von denen es übrigens irre viele gibt. Man kann rechts oder links vom Eingang mit dem Rundgang anfangen, was einen zunächst in der Zeit nach vorne bringt und dann nach der Hälfte wieder zurück. Entweder man fängt mit den Deutschen und ihren goldenen Madonnen im 14./15. Jahrhundert an (hab ich gemacht) und hangelt sich dann durch die alten Niederländer des 15. Jahrhunderts (bei denen bin ich am längsten geblieben) zu den Engländern und Franzosen des 18. Jahrhunderts, um dann zeitlich wieder zurückzugehen und schließlich bei den Italienern im 13. Jahrhundert zu enden. Oder man geht andersrum. Das mache ich nächstes Mal, dann kann ich nämlich noch was sehen.

Das Bild da oben ist eines der Bilder, über die wir in meiner Lieblingsvorlesung „Altniederländische Malerei“ im letzten Semester gesprochen haben. Ich kannte das Bild schon vorher, denn bei meinem Memling-Referat im 1. Semester bin ich natürlich auch über Memlings Lehrherren van der Weyden gestolpert und habe dessen Werke immerhin mal per Bildband überflogen. Aber so richtig angeschaut habe ich sie mir anscheinend nicht, weder beim Referatvorbereiten noch in der Vorlesung im 2. Semester. Ich habe mir das Bild brav für die Klausur gemerkt, aber erst jetzt, wo ich davorstand, konnte ich es richtig würdigen. Und damit komme ich wieder zum Gequengel der Dozierenden. Totaler Allgemeinplatz, aber: Ja, Bilder sehen im Museum anders aus als im Buch in der Bibliothek. Bzw. man entdeckt an ihnen Details, die einem bisher nicht aufgefallen waren, sei es, weil die Vorlage zu klein oder zu schlecht war oder man eben einfach nicht die Muße hatte, mal länger hinzugucken.

So ist mir bei der jungen Frau natürlich schon beim ersten Blick, den ich auf sie warf, die titelgebende, aufwendig gefaltete Haube aufgefallen. Was ich bisher nicht gesehen hatte, obwohl es so deutlich ist: die kleine Nadel, die die Haube auf der rechten Kopfseite zusammenhält. Auch auf der linken Seite scheint eine zu stecken, sie ist aber verdeckt, und unterhalb des ebenfalls verdeckten Ohres ist auch eine Art Befestigung. Dass die Damen in dieser Zeit ihre Stirn rasierten, wusste ich bereits, aber erst jetzt ist mir aufgefallen, dass der obere Teil der Haube leicht durchsichtig ist; man sieht die nackte Haut der Stirn ganz leicht durch den Stoff schimmern. Und was mich völlig fasziniert hat: die harten Falten im Stoff bzw. die Stofflichkeit überhaupt. Dass das keine weich fallende Seide ist, war mir schon klar, aber erst als ich vor dem Bild stand, sah ich den rauen, widerspenstigen Stoff vor mir, in den – wie auch immer – ganz klare, scharfe Falten gezwungen wurden, um ihn zu glätten. Und die scheinen sich auch beim Tragen nicht aufzulösen, die bleiben hart und unnachgiebig. Man kann ganz deutlich die verschiedenen Lagen des Stoffes sehen, man meint fast, jeder Faser nachspüren zu können, so fein ist das grobe Gewebe gemalt. Ich mochte die Dame schon vorher – jetzt finde ich sie großartig.

Petrus Christus, „Bildnis einer jungen Frau“, 29 × 22,5 cm, Tempera und Öl auf Holz, um 1470

Das nächste Bild, bei dem ich alle quengelnden Profs im Kopf hatte, war der Monforte-Altar von Hugo van der Goes, 147 x 242 cm, Öl auf Eichenholz, um 1470 gemalt. Bei dem Bild erkannte ich zum ersten Mal die wenigen Strohhalme, die im Bildvordergrund zu Füßen der Maria auf dem Boden lagen. Hatte ich vorher nicht bemerkt. Ich konnte die minutiös gemalten Blumen rechts und links im Bild würdigen, die juwelenbesetzte Pelzhaube mit ihren feinen Härchen sowie die schwere, edle Stofflichkeit der Mäntel der Könige.

Und ich konnte die Begeisterung unseres Professors noch besser nachvollziehen. (Ich habe leider meine Notizen aus der Vorlesung in München, daher kann ich nur noch aus dem Kopf zitieren, und ich hoffe, es ist kein kompletter Blödsinn.) Ich meine mich daran zu erinnern, dass er sagte, dass dieses Bild sich in seiner Bewegung stark von den anderen alten Niederländern unterscheidet. Wenn man sich zum Vergleich mal den Johannesalter von Rogier van der Weyden von 1455 anschaut – der also gerade 15 Jahre älter ist –, wirkt der Monforte-Alter deutlich lebendiger, weniger stilisiert, fast filmisch. Wobei die Stilisierung bei van der Weyden durchaus gewollt ist. Aber van der Goes wollte eben was anderes, er wich von der jahrzehntelang erfolgreichen Formel für Adorationsaltäre ab und das kam dabei raus. Ich finde, es ist kein Wunder, dass uns dieser Altar mehr oder eher anspricht, eben weil er lebendiger ist. Man sieht fast die Handbewegung des Königs in schwarz, der gerade zum goldenen Pokal greift. Gleich werden die Männer, die rechts durch die Stalltür lugen, miteinander sprechen, gleich werden die Knappen in der Bildmitte ihren Blick von links nach rechts schweifen lassen. Und da, direkt über den Knappen, läuft ein Eichhörnchen auf dem Holzbalken, das sicherlich gleich zum Sprung ansetzt. Der Monforte-Altar fühlt sich fast wie ein Standbild aus einem Film an und unterscheidet sich damit deutlich von den älteren Altären (und durchaus auch von jüngeren).

Was sich auch erst in seiner ganzen Schönheit offenbart, wenn man selbst vor dem Bild steht, ist seine Farbigkeit. Alleine dadurch werden die zwei Menschengruppen im Vordergrund subtil, aber deutlich voneinander getrennt: die Gruppe mit Maria und dem ersten König ist in Rot- und Blautönen sowie den Mischtönen aus diesen Farben gekleidet, die beiden anderen Könige sind dunkler, erdiger, sie rücken optisch ein wenig in den Hintergrund, obwohl sie perspektivisch genauso so weit vorne im Bild stehen wie die andere Gruppe. Auch dadurch wirkt das Bild trotz seiner vielen Protagonisten ruhig und nicht überfüllt.

Und: das Licht. Guckt euch mal die rechte Hand des Königs in schwarz in Großaufnahme an (I ♥ Google). Man sieht an Marias Schatten, dass das Licht von rechts in den Stall fällt, aber besonders auffällig ist es an der Hand des Königs. Es scheint direkt auf seine Handfläche, die deutlich heller ist als der Handrücken; man sieht es gut in den Fingerzwischenräumen. Auch durch diese Lichtmodellierung wirkt die Figur lebendiger und nahbarer.

Hans Memling, „Bildnis eines Mannes“, 36,1 x 29,4 cm, Öl auf Eichenholz, um 1470/75

Ich gerate schon wieder ins Schwärmen. Kürzen wir ab: Wenn ich für die Klausur in der Vorlesung nicht nur die Maler und ihre Werke (und ab und zu ihr Entstehungsdatum), sondern auch ihre Aufbewahrungsorte gelernt hätte, hätte ich nicht dauernd innerlich „Ach, das ist auch hier?“ piepsen müssen. Ich habe mal kurz meine Folien durchgeklickt: Insgesamt habe ich hier 18 (!) Bilder gesehen, über die wir sprachen, darunter solche Schätze wie van Eycks Madonna in der Kirche, van der Goes’ Anbetung der Hirten, Gossaerts Neptun und Amphitrite, die vielen Altäre von van der Weyden und – die eine Hälfte des Ehepaarporträts, das in meinem Memling-Referat vorkam. Die andere Hälfte hängt im Louvre, und ich habe sie sehr vermisst, weil meine Augen sich so an beide zusammen gewöhnt haben.

Ich glaube, die Aufseher und Aufseherinnen haben mir irgendwann argwöhnisch hinterhergeguckt, weil ich so debil grinsend von einem bekannten Bild zum nächsten hüpfte und mich freute, meine Freunde wiederzusehen. Guckt weiter. Ich bin schnellstmöglich wieder bei euch.

(HACH!)