Über Lehmbruck
Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918), Kunsthalle Hamburg
Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918), Kunsthalle Hamburg
Der erste Besuch in der Kunsthalle führte mich ins 19. Jahrhundert, der nächste ins Mittelalter bzw. die frühe Neuzeit, und Dienstag war endlich mal die klassische Moderne dran. Der Link zum 19. Jahrhundert vom März 2012 ist mir schon fast peinlich in seiner Unkenntnis, aber ich mag den Satz „Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.“ Ha!
Die letzten beiden Male habe ich gar nicht um Ermäßigung beim Eintritt gebettelt, denn die Website behauptet, ich kriege eh keine, aber dieses Mal dachte ich, da stelle mer uns janz dumm und fragen. Ich geriet an eine Dame an der Kasse, die eine weitere Dame fragte, in einem Berg Papiere blätterte, „Wie war das mit Leuten über 27, die Kunstgeschichte studieren, aber nicht in Hamburg?“ und die mir schließlich einfach eine ermäßigte Karte für 6 Euro anstatt für 12 verkaufte. Dankeschön. (Ich. Will. UMSONST. Ins. Museum!)
Das Putzige an der Kunsthalle: Man kommt nicht direkt zur klassischen Moderne, sondern muss dafür durch die Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Ist also quasi wie bei Ikea, wo man auch nicht direkt zu den Köttbullar kommt, sondern erst durch die Möbel muss.) Den Umweg nehme ich aber gerne, denn dort hängen die Drei Frauen in der Kirche von Wilhelm Leibl. Immer noch mein Lieblingsbild. Ihr müsst euch das bitte mal vor Ort angucken; keine Abbildung und schon gar nicht mein iPhone-Foto können die Feinheit wiedergeben, mit der das Bild gestaltet wurde.
Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche (1881)
Nach einem Jahr Studium ist das 19. Jahrhundert nicht mehr ganz so reizvoll für mich wie vorher, aber es steht immer noch ziemlich weit oben auf der Liste – wobei ich in jeder Vorlesung und in jedem Seminar meine Vorlieben neu justiere. Nach dem ersten Semester fand ich auf einmal die Romanik toll, die mir vorher völlig verschlossen war, und die Gotik hatte sich einen Platz im Kopf erobert; den im Herzen hatte sie schon. Im zweiten Semester vertiefte ich meine Faszination mit der christlichen Ikonografie der Niederländer im 15. Jahrhundert, auf die ich durch mein Memling-Referat im ersten Semester aufmerksam gemacht wurde. Außerdem bekam ich im absoluten Schnelldurchlauf Kunst von 1500 bis 2000 präsentiert, und ich beschäftigte mich erstmals ernsthaft mit Skulpturen, mit denen ich vorher auch eher nur gefühlt was anfangen konnte, aber nie wusste, was ich eigentlich mag und warum.
Im Skulpturen-Seminar besprachen wir auch Bildwerke, die mit der Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert was zu tun hatten; wir hörten allein vier Referate zu Picasso, unter anderem eins zu den Demoiselles d’Avignon von 1907 (das Bild gilt als der Urknall der Moderne, könnt ihr euch für Partysmalltalk mal merken) und ein weiteres zu seinen Absinthgläsern, an denen toll ist, dass sie von Picasso erstellte Plastik und bereits vorhandenes Material kombinieren (den Löffel), was aus der Plastik eine erste Assemblage macht (auch das ein hervorragender Smalltalkbegriff). Kurz gesagt: Ich fühlte mich etwas besser gewappnet für die Neuzeit als bei den letzten Besuchen und begann mit dem Raum, der mein neuer Lieblingsplatz in Hamburg ist: ein Raum mit Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck und Bildern von Paula Modersohn-Becker.
Lehmbrucks Gestürzter war für mich der Höhepunkt der El-Greco-Ausstellung in Düsseldorf, die ich sonst eher so meh fand, und während der Beschäftigung mit Alexander Archipenko bin ich ihm immer wieder begegnet. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, ihn in Hamburg wiederzusehen.
Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918)
Dieser eigentümlichen Stimmung, in die mich Lehmbrucks Skulpturen in ihrer Fragilität und Einsamkeit versetzen, kann ich mich nie entziehen, und ich finde die Zusammenstellung mit den Bildern von Modersohn-Becker sehr passend. Sie zeigen ausnahmslos Menschen, so dass der ganze Raum die Möglichkeit bietet, mit verschiedenen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten, die für mich aber alle irgendwie zusammengehörten. Wundervoll. Und melancholisch. Melancholisch-wundervoll.
An dem Bild Alte Moorbäuerin fand ich folgende Information: „Erworben 1920. Beschlagnahmung durch die Kommission für „entartete“ Kunst 1937. Erneut erworben 1951“. Wenn ich richtig geguckt habe, war das das einzige Bild, an dem der Hinweis auf die „entartete“ Kunst stand; umso wichtiger finde ich ihn.
Im nächsten Raum versank ich in drei Bildern von Munch, unter anderem in der Madonna, und entdeckte den mir vorher unbekannten Georg Minne. Bei Munch habe ich gemerkt, dass ich inzwischen anders gucke als vor einem Jahr. Ich lasse zwar immer noch zunächst im Raum den Blick schweifen und konzentriere mich dann auf die Bilder, die mich spontan faszinieren, aber bei denen versuche ich sofort zu ergründen, was sie aus kunsthistorischer Sicht auszeichnet. Ich überlege nicht mehr, was mir an ihnen gefällt – die Farben, die Komposition, das Motiv –, sondern ich rufe meine bisher im Kopf gesammelten Bilder ab und ordne das vor mir hängende Werk ein. Oder versuche es zumindest, was nach zwei Semestern natürlich noch eher ein Rumstochern im Nebel ist, aber der wird mit jedem Buch, jedem Bild und jedem Kurs lichter. So erstaunte mich bei der Madonna die rote Gloriole und das schwarze Haar; mir fiel bei Minnes Drei Heiligen Frauen (ich hoffe, ich habe mir den Titel richtig gemerkt) auf, dass sie keine Gesichter haben, was ihnen ihre Menschlichkeit raubt, und ich überlegte bei einem Winterbild Munchs, welche Farbschicht wohl zuerst kam und ob das Absicht war, seine Signatur per Weiß einzuschneien.
Im nächsten Raum warteten Picasso, Brancusi und Gris auf mich, und hier hatte ich ständig die oben erwähnten Demoiselles sowie Picassos Gitarrenbilder im Hinterkopf: Sehe ich Entwicklungen oder Abstufungen in der Abstraktion? Ich fühlte mich in jeder Minute um so viel reicher als noch vor einem Jahr, weil ich mich den Werken anders nähern konnte – aber trotzdem meine übliche emotionale Rangehensweise noch nicht von Fakten verschüttet wurde.
Constantin Brancusi, Der Kuss (1907/08)
Der nächste große Raum war mein zweitliebster auf dem Rundgang: Hier versammelten sich unter anderem Feininger, Belling, Schlemmer, von Jawlensky und Klee. Ich twitterte schon den Satz, der mir erstmals beim Rundgang durchs Lenbachhaus in München bei meiner immer noch nicht verbloggten Privatführung rausrutschte: „Ach, das hängt HIER?“ Damals ging es um das Porträt von Alexander Sacharoff von Alexis von Jawlensky, das ich sehr mag und von dem ich wirklich keine Ahnung hatte, dass es sich in meiner Nachbarschaft befindet. In Hamburg ging es mir bei Bellings Skulptur 23 so; auch hier der Querverweis zum Lenbachhaus: Dort steht nämlich der Dreiklang, über den wir im Skulpturenseminar sprachen. In meinem Kopf klickt es seit einem Jahr dauernd.
Rudolf Belling, Skulptur 23 (1923)
Was mich in diesem Raum so fasziniert hat: Ich mag auf einmal Feiniger. Den fand ich bisher immer so ja ach okay, aber dieses Mal erwischte er mich total. Ich ahne, dass es was mit der Beschäftigung mit Architektur zu tun hat, denn auf einmal konnte ich sein Liniengewirr nachvollziehen, sah Strukturen statt Dekoration und war begeistert davon, wie er einen Domchor auf Grundformen runterbrechen konnte.
Bei Klee bin ich stets überfordert, aber bei Klee ist mir das egal. Den mag ich einfach. Alles von ihm. In Hamburg hängen unter anderem (?) der Goldfisch (oh so pretty) und die Revolution des Viadukts. Vor dem Bild stand ich gerade, als hinter mir eine Schulklasse sich vor Franz Marcs Affenfries aufbaute und rumquatschte. War mir aber egal, ich starrte auf dekonstruierte Viadukte und war glücklich.
Dann erlahmten meine Augen aber auch schon so langsam. Ich nahm noch alle Kirchners mit – auch auf ihn bin ich erst im Skulpturenkurs aufmerksam geworden –, ignorierte Nolde aber schon so ziemlich; der kam mir auf einmal viel zu kleinteilig-nervig vor, nachdem Kirchner doch so schön flächig malte. Der vorletzte Raum gehört Max Beckmann, und hier konnte man wunderbar die Entwicklung nachvollziehen. Man beginnt Anfang des Jahrhunderts, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, bestaunt ein hellfarbiges Selbstporträt, ahnt seinen Lebenslauf und den des Jahrhunderts anhand der sich ändernden Bilder und Skulpturen und endet bei dunklen, zerfahrenen Bildern, die kurz vor seinem Tod entstanden.
In den letzten Kabinetten entdeckte ich dann noch zwei Frauen, von denen ich noch nie gehört hatte. (Vielleicht sollte ich doch das blöde Blockseminar im nächsten Semester belegen, das sich nur mit Künstlerinnen beschäftigt. Ich hasse Blockseminare.) Die Damen heißen Anita Rée und Elfriede Lohse-Wächtler, und gerade den Wikipediaeintrag zur letzteren sollte man sich nicht gönnen, wenn man sowieso schon schlecht gelaunt ist. Eine kleine Lesebitte. Kann nicht schaden. Und geht mal wieder ins Museum. Kann auch nicht schaden.
„Bei Cézanne begann sich die Aufgabe der Malerei zu erweitern. Zu dem „biologischen“ Auftrag, etwas Sichtbares wiederzugeben, gesellte sich der neue geistige Auftrag, etwas überhaupt erst sichtbar zu machen. (…) Vermöge eines engen Zusammenwirkens von Auge und bildnerischer Intelligenz: „beim Malen gibt es zwei Dinge – das Auge und das Gehirn. Beide müssen sich gegenseitig unterstützen. Man muß an ihrer wechselseitigen Entwicklung arbeiten – am Auge mittels des optischen Studiums der Natur, am Gehirn mittels der logischen Entwicklung und Ordnung der künstlerischen Erlebnisse – sie schafft die Ausdrucksmittel.“ (…)
Cézanne verfügte sich in das Werk hinein. Er tat das mit einem ergreifenden Einsatz seines ganzen Menschentums. Von Anlage und Temperament ein ungestümer, ganz barocker Geist von einer erschreckend sinnlichen Wildheit, verfügte er sich unter die unerbittliche Disziplin seines Konstruierens; daraus kommt die zitternde Kraft seines Formgefüges. Er wob sein ganzes eigenes Sein dem Bildleib ein. Fortab sitzt das „Bild des Menschen“ im Bilde selbst, da hat er sich hineinverfügt, dort ist er aufzufinden. Die heute so beliebte Frage nach dem Menschenbild in der modernen Kunst, wenn man darunter das Erscheinungsbild, das Ikonographische versteht, zeugt von einem hilflosen Mißverstehen dieses Grundgedankens.“
Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 38/39.
„256
Morgens kommt der Pfleger und fragt, was ich trinken möchte. Was ich trinken möchte? Ich sage: Kaffee. Ich sage immer Kaffee, Wasser steht ja auf dem Nachttisch. Abends trinke ich Tee.
257
Ich muß nur liegen. Ich muß nur liegen und ab und zu behaupten, ich hätte meine Temperatur gemessen. Jeden Morgen erfinde ich eine Zahl, ich bin längst viel zu faul, mir das Fieberthermometer tatsächlich in die Achselhöhle zu klemmen. Und ich denke, eigentlich, eigentlich bin ich gern hier. Das Krankenhaus befreit von vielen Dingen, die sonst so ungeheuer wichtig scheinen.
Vielleicht bin ich schon zu lange hier.
258
Zwei oder drei Stunden starre ich die glasgraue Wasserflasche auf dem Nachttisch an. Ich mag ihre Silhouette, ich mag ihre Banderole aus Papier. Stolz sieht sie aus, die Flasche. Ich glaube, sie leuchtet.
Und ich merke, es ist gar nicht so schwer, die Dinge so lange anzuschauen, bis sie etwas ganz anderes bedeuten. Allerdings weiß ich nicht unbedingt, was.“
Wagner, David: Leben, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 271/272.
„Von seiner Kunsthandelstätigkeit kannte er sich in der Kunst gut aus. Nur die Neuesten, die Impressionisten, die kannte er noch nicht. Er setzte also bei Millet an, dort fand er den schweren, dunklen, festen Klang der Erde und die der Erde zugewandten Gesten in den Menschen. Ihn zieht das Sein der Dinge an, das Beredte ihres stummen Daseins. Als er 1882 das Landschaftsmalen zum erstenmal versucht, da denkt er gar nicht an Bild, Dekor oder Erscheinung, da kommt es ihm an „auf die ernorme Kraft und Festigkeit des Terrains“. Das war sichtbar zu machen. Und nun stürzt er sich mit dieser wilden, religiösen Inbrunst, die ihm immer eigen war, auf die Dinge. Nichts da von peinture und sorgsamem Umgang mit den Mitteln, Hauptsache blieb die Wahrheit von den Dingen. Da drückt er „Wurzeln und Bäume direkt aus der Tube und modelliert mit dem Pinsel. Ja, nun stehen sie, wachsen, wurzeln mit Kraft“. Wunderbare Einsichten kommen ihm da, Worte von tiefster Wahrheit, „wenn man wachsen will, dann muß man sich in die Erde senken“, schreibt er 1883 an Théo. Und so gräbt er sich ein, immer auf der Suche nach den Bildern, die in den Dingen und zugleich hinter ihnen liegen, die ihr Sein bestimmen, ihre ausgeformte Wahrheit. Und wie er sich in die Dinge gräbt, so gräbt er sich in die Gesichter der Elendsbauern um ihn, zeichnet wie besessen, um, wie er sagt, den „Typus“ zu finden, das, was hinter dem Einzelnen liegt, die große Maske des menschlichen Schmerzes.“
Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 26.
Ruge, Eugen: Cabo de Gata, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2013, S. 82.
„Alle Rede im Sinne des „erweiterten Kunstbegriffs“ lief am Ende auf die Vorstellung von einer umfassenden schöpferischen Umgestaltung des Lebens hinaus: „Mein Begriff von Plastik bezog sich immer auf das Leben, auf das Gesamtkunstwerk, man kann auch sagen auf die menschliche Gesellschaft als Skulptur.“ Er[, Joseph Beuys,] sprach von der „Sozialen Skulptur“, die erst dann verwirklicht sei, „wenn der letzte lebende Mensch auf dieser Erde zu einem Mitgestalter, einem Plastiker oder Architekten am sozialen Organismus geworden ist.“
Mit den 68ern und ihren Vorstellungen von der Veränderung der Gesellschaft konnte Beuys nicht viel anfangen, er wollte die Menschen ändern, nicht mit Mitteln des Klassenkampfes, sondern mit den Mitteln der Kunst: „Radikal gesagt, gibt es überhaupt keine andere Methode, die noch übrigbleibt, als die Kunst. Also werde ich der Kunst auch die zentrale Rolle einräumen.“
Der entscheidende Unterschied zu den verbalen Bekundungen anderer Künstler lag in dem Verlangen, nicht in erster Linie der eigenen Kunst die adäquate Grundlage zu schaffen und eine sinngemäße Rezeption zu ermöglichen, sondern von den großen Menschheitsfragen auszugehen, Lösungen weit über den Künstlerhorizont anzupeilen und in diesem Rahmen dann der eigenen Kunst einen festen Stellenwert einzuräumen. (…)
So wurde in den letzten Jahren noch einmal ganz deutlich, daß Zeichnen, Formen, Sprechen, Handeln – Praxis und Theorie – bei Beuys eine untrennbare, charakteristische Einheit bilden, wie auch Werk und Person, Auftritt und Leben bei ihm eine Einheit waren, die stets im Zeichen der verändernden Kunst stand. Daß er diese Einheit lebte, machte ihn zum Visionär, dem letzten Visionär in der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Wo aber das Werk vom Charisma seines Schöpfers und von dessen Auftritten begleitet, wenn nicht entscheidend geprägt wird, stellt sich die Frage, wie das Werk nach dem Tod seines Schöpfers wirksam weiterexistiert. Die zeichnerischen, die skulpturalen, die installatorischen Werke bleiben. Die Aktionen aber sind vergangen wie alte Theaterinszenierungen, Dokumente sind an die Stelle des zentralen Werkkomplexes getreten, Vorstellungskraft hat die leibhafte Erfahrung zu ersetzen; die Rede findet nicht mehr statt, ist zur Schrift geworden; die Visionen lassen sich nicht authentisch fortentwickeln. Mit dem Künstler des erweiterten Kunstbegriffs scheint auch ein wesentlicher Teil seiner erweiterten Kunst dahingegangen. Geblieben ist der herkömmlich faßbare Teil, und der erscheint ohne die gestaltende Präsenz zwangsläufig in weniger lebhaftem Licht.“
Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert: Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, 2. durchgesehene und ergänzte Auflage, München 2010, S. 240/241 und 243.
„Was aber sagte sie[, die Kunst,] nun selbst? Was ist festzustellen? Da ist einmal festzustellen, daß diese ganzen, von außen auf sie einwirkenden Ideen sie überhaupt nicht berührten. Ja, der [zweite Welt-]Krieg selbst und die Situation, die er hinterließ, hatten keinen oder nur einen sehr geringen Einfluß auf sie. Sie wirkten lediglich auf die psychologische Einstellung des Künstlers zur Gesellschaft und zu den Manifestationen des öfentlichen Lebens im negativen Sinn ein.
Vergleicht man diese Jahre mit denen nach dem ersten Weltkrieg, so ist die beharrliche Antwortlosigkeit des schöpferischen Menschen auf das Maßlose der Ereignisse im geschichtlichen Raum erstaunlich und für den inneren Wert dieser Ereignisse vernichtend. Noch der spanische Bürgerkrieg, als organisierter Angriff auf die menschliche Freiheit, hatte eine mächtige Resonanz in der westlichen Künstlerschaft gefunden; der zweite Weltkrieg konnte sie zu keiner Antwort mehr provozieren. Der künstlerische Mensch hatte den Krieg längst hinter sich gelassen, seine Gegenäußerung waren die eigenen Gebilde.
Der Künstler suchte im ersten Weltkrieg noch nach einem Sinn des Krieges und war geneigt, ihn in die Zukunft zu verlegen. Für Franz Marc, der vor Verdun fiel, war der Krieg ein Läuterungsvorgang, und er meinte, „ein Frühling der Kultur müsse der Monstrosität dieser Katastrophe folgen“. Die Briefe dieser ganzen Kriegsgeneration sind voll von Prophetien in die Zukunft hinein, „eine Erfüllung wird sein, irgendwann, in einer neuen Welt“ (Marc). Das Ende des zweiten Weltkrieges sah ein anderes Geschlecht – illusionslos, skeptisch, einsam, hart die Realitäten wertend und nur die Gegenwart und die menschliche Existenz in dieser anerkennend.“
Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 423/424.
„Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität. Damit hat es die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen. Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden.
Duhamel, der den Film haßt und von seiner Bedeutung nichts, aber manches von seiner Struktur begriffen hat, verzeichnet diesen Umstand mit der Notiz: „Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.“ (28) In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will (29). Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit (30).“
28) Georges Duhamel: Scènes de la vie future. 2e éd., Paris 1930, P. 52.
29) Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.
30) Wie für den Dadaismus sind dem Film auch für den Kubismus und Futurismus wichtige Aufschlüsse abzugewinnen. Beide erscheinen als mangelhafte Versuche der Kunst, ihrerseits der Durchdringung der Wirklichkeit mit der Apparatur Rechnung zu tragen. Diese Schulen unternahmen ihren Versuch, zum Unterschied vom Film, nicht durch Verwertung der Apparatur für die künstlerische Darstellung der Realität, sondern durch eine Art von Legierung von dargestellter Wirklichkeit und dargestellter Apparatur. Dabei spielt die vorwiegende Rolle im Kubismus die Vorahnung von der Konstruktion dieser Apparatur, die auf der Optik beruht; im Futurismus die Vorahnung der Effekte dieser Apparatur, die im rapiden Ablauf des Filmbands zur Geltung kommen.
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2010, S. 66–68.
Die Erstausgabe erschien 1936, der Volltext steht hier.