Zwei Hausarbeiten

Wochenende – Zeit für ein bisschen Bildung. Anbei findet ihr meine ersten beiden Hausarbeiten, die ich in Kunstgeschichte geschrieben habe, denn Wissen ist schließlich für alle da.

Die erste Hausarbeit heißt „Andacht, Repräsentation und Erinnerung: Drei Bildwerke Memlings und ihre Funktion“. Auf diese Arbeit habe ich eine LAUSIGE 1,7 bekommen, was ich vor allem einem nicht vorhandenen Abbildungsverzeichnis zu verdanken habe. Ich habe mich natürlich brav an alle Angaben zur Erstellung einer Hausarbeit gehalten, die die Uni mir ans Herz gelegt hat, aber dort stand die verführerische Formulierung „Abbildungen können mitgeliefert werden“ (Hervorhebung von mir), was für mich hieß: Sie müssen nicht. Und meine Dozentin ist ja klug und weiß, worum’s geht, also lasse ich das. Hätte ich mal gefragt.

Zweiter Kritikpunkt waren fehlende biografische Angaben und zu kurze Bildbeschreibungen. Die Werke, um die es geht, findet ihr einerseits in meinem Blogeintrag zum Referat über das gleiche Thema (Diptychon des Maarten van Nieuwenhove sowie das Bildnis eines alten Ehepaars), andererseits hier, denn in der Arbeit spreche ich auch über Zwei Flügel mit den Bildnissen des Willem Moreel und der Barbara von Vlaenderberch.

Die zweite Hausarbeit trägt den schönen Titel „Der finale Bruch mit der Klassik: Alexander Archipenkos Schreitende Frau“ und findet sich hier. Sie hat ein fettes Abbildungsverzeichnis, total tolle biografische Angaben, eine irrwitzig ausführliche Werkbeschreibung – und wurde mit 1,3 benotet. WHAT DOES A GIRL HAVE TO DO? Hier gab es eigentlich nur einen richtigen Fehler, den ich gemacht habe: In der Einleitung spreche ich von „massiven“ Werken. Das ist bei Bronze natürlich Blödsinn; worauf ich hinaus wollte, waren Werke mit einer geschlossenen Oberfläche.

Viel Spaß beim Lesen. Ich hatte jedenfalls ne Menge Spaß beim Schreiben.

Über Skulptur und Plastik

„Die Künstler suchten in diesen frühen Kunstwerken nach neuen Ausdrucksformen, um ihren veränderten Vorstellungen vom menschlichen Körper, seinem Verhältnis zur Natur und seiner Stellung innerhalb eines komplexen Lebensgefüges Gestalt zu geben. In diesem zentralen Gedanken, also in der Entheroisierung der Skulptur und seinem menschlichen Vorbild, liegen die Wurzeln für die vielfältigen Innovationen im Bereich der Plastik. Die Geometrisierung und Reduktion der Formen auf das Wesentliche in den Skulpturen der alten Kulturen stand diesen Bestrebungen nahe und bot den modernen Bildhauern eine Basis, auf der sie ihre neuen Formensprache entwickeln konnten. Darüber hinaus ist auch das neue Verhältnis zwischen der Plastik und dem umgebenden Raum, also zwischen Materie und Raum, ebenso als Folge dieser Bewußtseinsänderung zu betrachten wie die Vorliebe der Künstler für den torsohaften nackten Körper, der Verzicht auf den Sockel, der aktive Dialog zwischen Betrachter und Kunstwerk, die Darstellung metaphysischer Zusammenhänge durch einfache Symbole sowie die theoretische Auseinandersetzung mit all diesen Fragen, wie sie in der Kreativitätstheorie Archipenkos zum Ausdruck kommt.“

Barth, Anette: Alexander Archipenkos plastisches Oeuvre: Seine Bedeutung für die Skulptur des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Lichtplastiken, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997, S. 229.

Über Archipenko

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“

„Traditionally there was a belief that sculpture begins where material touches space. Thus space was understood as a kind of frame around the mass. We may change the forms of solid volumes many times, but the actual existence of the outline of the forms, beyond which is the beginning of space, seems to be unavoidable. Ignoring this tradition, I experimented, using the reverse idea and concluded that sculpture may begin where space is encircled by the material. in such cases it is the material that becomes the frame around the area of space, having its own significance.“

Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.

Kunst gucken: „Rodtschenko – Eine neue Zeit“ im Bucerius Kunst Forum

Für meine Hausarbeit im zweiten Semester über Alexander Archipenkos Schreitende Frau habe ich wieder wild in der Gegend herumgelesen wie im ersten Semester bei Hans Memling auch schon. Ich habe mir bewusst einen Künstler bzw. ein Werk ausgesucht, von dem ich noch nie gehört hatte, eben weil ich dann wild in der Gegend rumlesen muss, um es einordnen zu können. Die erste Einordnung fand natürlich schon im Kurs statt, wo zum Beispiel Wladimir Tatlin und seine Konterreliefs bzw. das Denkmal für die III. Internationale erwähnt wurden (beide hier zu sehen) oder natürlich das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Seitdem weiß ich, wo in russischen Wohnstuben die Ikone hängt, nämlich da, wo in der Ausstellung 0.10 1915 das Schwarze Quadrat hing.

Wen ich noch kennenlernte: Alexander Rodtschenko und seine Raumkonstruktionen von 1920/21, die ich im Kopf immer mit der Schreitenden Frau verbinde. Umso mehr hat es mich gefreut, dass in Hamburg gerade eine Ausstellung über Rodtschenko läuft, und dort stehen und hängen auch – rekonstruiert – seine Raumkonstruktionen.

Rodtschenko Ausstellung

Ausstellungsansicht v.l.n.r: Raumkonstruktionen Nr. 12 (Oval im Oval), Nr. 22, Nr. 23, Nr. 13 (Dreieck im Dreieck), Nr. 8 (Kreis im Kreis), Nr. 11 (Quadrat im Quadrat), alle Werke von 1920/21. Foto: Ulrich Perrey.

Ganz kurz gesagt, ist das Besondere an der Schreitenden Frau der durchbrochene Oberkörper und Kopf. Archipenko ist der erste Bildhauer, der Masse weglässt und den dadurch entstandenen Raum als Teil der Skulptur begreift:

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“ (1)

Mit Archipenko entstand so die Idee, dass Raum, Luft, Lichteinfall und als Konsequenz auch Bewegung Teil einer Skulptur sein können. In dieser gedanklichen Tradition schuf Rodtschenko seine Raumkonstruktionen. Bei ihnen gilt es nicht nur, das hölzerne Gebilde zu sehen, sondern auch die Bewegung und den sich dadurch ständig verändernden Schattenwurf einzubeziehen. Das schafft die Ausstellung sehr schön, indem die Werke sehr zentral aufgehängt sind; um sie herum stehen weiße Stoffleinwände, und diverse Spots erzeugen vielfältige Schatten, sowohl auf dem Boden als auch auf den Leinwänden. Man kann die Plattform, über der die Werke hängen, umrunden und sie so von allen Seiten und mit unterschiedlichen Schattenwürfen betrachten.

Rodtschenko ging es aber in seinem Werk aus dieser Zeit nicht nur um die Raumwirkung von Konstruktionen, sondern er experimentierte auch in Bildern mit Farben und Linien. Während zum Beispiel Picasso oder Braque in Paris versuchten, dreidimensionale Körper in Farbflächen zu zerlegen und damit die Realität zu abstrahieren, ging Rodtschenko noch einen Schritt weiter: Für ihn war ein Bild ein selbständiges Ding, es musste nichts abbilden, nichts darstellen, es war und galt ganz für sich. In seinen Werken experimentierte er mit Farbkontrasten bzw. verschiedenen Farbaufträgen und ihrer Wirkung. Diese Bilder haben mir ganz besonders gefallen, eben weil sie so für sich stehen. Man muss sie nicht ergründen oder in ihnen nach etwas suchen, man kann sich ihnen einfach hingeben. (Total unwissenschaftlich.)

Rodtschenko_Komposition_Nr.66_1919

„Komposition Nr. 66 (86), Dichte und Gewicht“ (1919), Öl auf Leinwand, 122,3 x 73,5 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

(Hehe: Dieses Bild stand in der Pressedatenbank, für die ich mir brav eine Akkreditierung geholt habe, auf dem Kopf. Vielleicht ein Test?)

In weiteren Gemälden reduziert Rodtschenko noch weiter und nutzt nun die Linie als Darstellungsmöglichkeit. Sie stand bisher nicht im Zentrum der Malerei, sie umfasste nur Farbflächen oder schuf den Gegenstand, den sie umriss. Für Kandinsky war sie „Vermittler des Geistigen, das die materielle Welt überwinden sollte. Für Rodtschenko dagegen war die Linie ein präzises Werkzeug, ein bildnerisches Mittel zur Darstellung von Licht, Raum und Bewegung. Damit legte er den Grundstein für die kinetische Kunst des 20. Jahrhundert.“ (2)

Rodtschenko_Konstruktion_Nr.92

„Konstruktion Nr. 92 auf Grün“ aus der Serie „Lineismus“ (1919), Öl auf Leinwand, 73 x 46 cm, Regionales A. und W. Wasnezow Kunstmuseum, Kirow. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Einschub: Die kinetische Skulptur hat zum Beispiel Naum Gabo umgesetzt. Seine Standing Wave von 1919/20 (hier in riesengroß) besteht aus Metallstäben, die durch einen Motor in Schwingung versetzt werden. Erst die konstante Bewegung lässt vor unserem trägen Auge einen Körper entstehen.

Was die Linien in der Ausstellung angeht: Ich fand es sehr charmant, dass die Grundlinien, auf denen die Überschriften der Wandtexte stehen, stets ganz leicht nach links gekippt waren. Damit stand ein schräger Text über der geraden Copy, rot über schwarz – das passte sehr schön ins konstruktivistische Gesamtbild.

Rodtschenkos Schaffen umfasste aber nicht nur Skulptur (bzw. Konstruktion) und Malerei, sondern er widmete sich auch der Gestaltung von Alltagsgegenständen, der Fotografie und der Werbegrafik. Das Design, was im Bucerius Kunst Forum an den Wänden hängt, lässt diverse Grafikpraktis sabbern (und mich auch), weil es auch nach fast 100 Jahren schick aussieht. Außerdem habe ich mich sehr über folgenden Satz an einem Exponat gefreut: „Der Text stammt von Majakowski, der zusammen mit Rodtschenko das erfolgreiche Werbekollektiv Reklam-Konstruktor betrieb.“ Reklam-Konstruktor! Alleine dafür möchte ich eine Agentur gründen.

Zurück zur Kunst: Mein liebstes Exponat war natürlich die Dame, die „BÜCHER!EINSELF11!!“ schreit.

Rodtschenko_Buecher_1924

„Bücher“. Werbeplakat mit dem Portrait von Lilja Brik für den Staatsverlag Lengis (1925), Druck, 56,5 x 80 cm, Sammlung Rodtschenko/Stepanowa, Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Die Ausstellung Rodtschenko – Eine neue Zeit läuft noch bis zum 15. September und lohnt sich sehr, weil sie es schafft, ein so breites Werk wie das Rodtschenkos zu komprimieren, ohne dass man das Gefühl hat, es entgeht einem etwas. Nebenbei waren alle Menschen im Bucerius Kunst Forum äußerst nett und zuvorkommend, der Ausstellungskatalog ist schick, UND man kommt als Kunstgeschichtsstudi umsonst rein. Like!

(1) Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.
(2) Kat. Ausst. Rodtschenko – Eine neue Zeit, Bucerius Kunst Forum Hamburg, 8. Juni bis 15. September 2013, Hamburg 2013, S. 121.

Über Lehmbruck

Wilhelm Lehmbruck, Gestürzter (1915), Stiftung Wilhem Lehmbruck Duisburg, Foto: Bernd Kirtz

„Der Rhythmus ist es also, der als Prinzip höchsten überpersönlichen Seins die Gestalten Lehmbrucks von der Last individueller Existenz erlöste. (…) Wie der Mensch im gotischen Dome unwiderruflich sein Ich verlieren muss, um aufgenommen in einen unaufhaltsamen Vertikalismus seine Seele in schrankenlose Weiten zu heben, so verlässt der Lehmbrucksche Mensch diese Welt harter Gegensätze (…), um allein im Rhythmus als dem stärksten kosmischen Prinzip ein Dasein reiner Geistigkeit zu führen.“

Kuhn, Alfred, Die neuere Plastik, München 1922, zitiert bei: Melcher, Ralph (Hrsg.), Alexander Archipenko, München 2008, S. 12.

Alexander Archipenko, Liegende Figur (1957), Privatsammlung (Sydney).