„Interpretationen werden gesprochen oder geschrieben, die Werke der bildenden Kunst sind aber gezeichnet, gemeißelt, gegossen, gemalt, gebaut, montiert; und die Schrift ist nicht ihr Darstellungsmittel, auch wenn sie in Signaturen und Inschriften auftritt. Wir neigen dazu, die Unterschiedlichkeit der Darstellungsmittel zu verwischen mit einer Reihe von Metaphern: Wir sprechen vom Lesen oder von der Lektüre der Bilder, als wären sie Texte, wir lesen von „architecture parlante“ und von „peinture parlante“. Wir sprechen von der Aussage eines Bildes, als könnte es die sprachliche Darstellung eines Sachverhaltes sein, und wir bemerken, dass ein Bild uns „nichts sagt“, wenn wir meinen, dass es uns gleichgültig sei. (…) Mit der Metaphorik vom Sprechen der Werke, die auf die Antike zurückgeht, äußern wir den Wunsch, das Kerygma, die an uns gerichtete Botschaft der Werke, zu entziffern und zu hören – kühler gesagt, ihren „Appell“ zu erfahren. (…)
Das Verstehen der Werke setzt die Unterbrechung der flüchtigen Wahrnehmung und des alltäglichen Gebrauchs der Werke voraus und kommt in Gang durch die Feststellung der Unverständlichkeit der Werke.
(…) Wir erkennen im „Appell“ oder in unserem Unverständnis die Aufforderung, mit der Tätigkeit des Verstehens zu beginnen. Wir können das Verstehen von Werken der bildenden Kunst allgemein als jene Tätigkeit umschreiben, durch die wir unser Unverständnis beseitigen wollen. Wir unterscheiden den „Appell“ der Werke, der sich an unser Verstehen richtet, von der Aufforderung an unser Verhalten, die z.B. von Plakaten ausgeht und zum Konsum von diesem oder jenem Bier leiten will. Ich glaube auch, dass wir einen Unterschied machen müssen zwischen dem Verstehen von Werken der bildenden Kunst und dem Verstehen beim Lesen von Texten. Klaus Weimar hat das Verstehen beim Lesen (den Vorgriff auf die folgenden Sätze und den Rückgriff auf das Gelesene) als einen „geistigen Reflex“ bezeichnet: Das Verstehen beim Lesen kann man nicht willentlich unterdrücken, es sei denn, man hört auf zu lesen.(3) Dagegen kann man Werke der bildenden Kunst gebrauchen oder wahrnehmen, ohne die Tätigkeit des Verstehens zu beginnen.“
(3) Weimar, Klaus: Enzyklopädie, §§ 285–297
Bätschmann, Oskar: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik, in: Belting, Hans u.a. (Hrsg.): Kunstgeschichte: Eine Einführung, 7. überarbeitete Auflage, Berlin 2008, S. 201/202.