Kunst gucken: „Mondrian. Farbe“, Bucerius-Kunst-Forum Hamburg

Piet Mondrian (1872–1944) dient bei Quengelnden über abstrakte Kunst gerne als Beispiel für „kann ich auch“ oder „was solln das“. Genauer gesagt, sind es seine Kompositionen aus Linien und Farbflächen, die gerne für deppige Bemerkungen herhalten müssen. (Ich quengele lieber über dusselige Produktverpackungen, mag aber das Mondrian-Dress von Yves Saint Laurent sehr gerne.) Auch deswegen fand ich die Ausstellung Mondrian. Farbe im Bucerius-Kunst-Forum sehr gut, weil sie den Weg von Mondrians Landschaften im 19. Jahrhundert zu seinen Gitterbildern ganz einfach nachvollziehbar macht.

Mondrian-Ausstellung
Ausstellungsansicht „Mondrian. Farbe“, Foto: Ulrich Perrey.

In den ersten Räumen sehen wir eben diese Landschaften: Breite Pinselstriche und erdige, unverklärte Farbtöne werden langsam zu leicht abstrahierenden Flächen und Farben. Auch die Szenerie ändert sich fast unmerklich: Wo anfangs noch ein Hauch von Genremalerei zu spüren war, verzichtet Mondrian bald darauf, eine Geschichte erzählen zu wollen, eine Szene zu etablieren: Er schaut, malt, geht weiter. Es geht ihm scheinbar nicht mehr um die reine Abbildung, wenn auch durch seine Augen, sondern um einen flüchtigen Eindruck, der rasch festgehalten werden soll. Licht, Schatten, Nebel, Stimmungen werden wichtiger als das Motiv selber. Die Striche werden flächiger, die Szenerie abstrakter, aber dadurch auch – jedenfalls für mich – stimmungsvoller.

Ich gebe zu, ich bin (noch?) nicht der größte Fan von Landschaftsmalerei; vor Bildern mit Bäumen und Wolken und Seen stehe ich meist etwas ratlos. Das ist alles hübsch, und ich weiß auch um die Entwicklung von Fantasielandschaften in Bildern zu besonders schön angelegten echten, die gemalt wurden, weil sie eben so schön waren, bis hin zu Bildern im 19. Jahrhundert, wo das Zufällige in der Natur plötzlich Motiv war, aber irgendwas will da nicht zu mir sprechen. Ich gucke mir das an, finde es hübsch und habe es zwei Meter weiter wieder vergessen. Deswegen mag ich wahrscheinlich die Landschaften von van Gogh so gerne, weil sie nicht pur abbilden, sondern mir zeigen, was der Maler in ihnen gesehen hat – und das ist deutlich unvergesslicher. Mein Liebling ist der Blick auf Arles (1889), der praktischerweise in der Neuen Pinakothek hängt und vor Farbe, aber auch vor innerem Schmerz nur so strotzt. Das sieht man bei Mondrian nicht; in seinen Bildern spüre ich keine innere Spannung, die sich in Baum- und Himmelsdarstellungen ausdrückt, aber stattdessen ein intuitives Gefühl dafür, was gerade das Besondere in diesem Moment, an diesem Ort ist.

In den Nuller- und Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts begann Mondrian, seine Farbpalette zu erweitern: Aus den erdigen, weichen Tönen wurden kräftige Grundfarben, die seine Landschaften völlig veränderten. Das kann man hervorragend in der Ausstellung nachvollziehen, bei der man nicht mal einen Audioguide braucht. An den Wänden und an den Werken selbst stehen knappe, sehr informative Texte, die einem das nötige kunsthistorische Rüstzeug mitgeben. Und selbst wenn man sie nicht durchliest – die Hängung erklärt es genauso nachdrücklich.

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Piet Mondrian: „Zeeuws(ch)e Kerktoren (Kirchturm in Zeeland)“, 1911,
Öl auf Leinwand, 114 x 75 cm, Gemeentemuseum Den Haag.
© 2014 Mondrian/Holtzman Trust
c/o HCR International USA

Mein Liebling war Die rote Mühle (1911) und das obenstehende Werk, der Kirchturm in Zeeland (1911). Bei der Mühle mochte ich den Bildausschnitt; das Motiv muss nicht mehr ganz gezeigt werden, um zu wirken, gerade die Beschneidung macht es so spannend. Und beim Kirchturm gefiel mir die Farbe, die natürlich am Bildschirm nicht annähernd so wirken kann wie im Original. Das ganze Gebäude scheint nur noch aus Farbflächen zu bestehen, die Dreidimensionalität wird nur noch angedeutet; das Objekt ist nicht mehr wichtig, die Farbe ist es. Sonnenuntergangsrosa trifft auf Dämmerungsviolett, das Licht, das durch das Blätterdach fällt, schafft grüne und blaue Flächen, die Fenster der Kirche leuchten türkis, der Boden versinkt schon fast in Nachtblau. Vor dem Bild stand ich mindestens zehn Minuten und wollte es am liebsten mitnehmen.

Schließlich trennte ich mich doch und ging in den ersten Stock, wo genau die Bilder hängen, bei denen man so schön „kann ich auch“ sagen kann (wenn man doof ist). Die chronologische Hängung macht es auch hier ganz einfach, die Entwicklung nachzuvollziehen: von der Komposition im Oval mit Farbfeldern (1914), die noch die Pastelltöne der Landschaften mitzunehmen scheint über die Komposition mit Gitter 8 (1919, ebenfalls im letzten Link zu sehen), die erstmals in der Kunstgeschichte konsequent ein Raster nutzt, um das Bild zu unterteilen – bis hin zu den Kompositionen aus Linien und den drei Grundfarben. Anfangs nutzte Mondrian noch Schattierungen von Grau; es lässt erahnen, dass man Farben modellieren kann, um aus ihnen Körper entstehen zu lassen. Zum Schluss verzichtet Mondrian auch darauf – er konzentriert sich auf die Grundfarben, Weiß und Schwarz. Die einzige „Körperlichkeit“, die noch zu ahnen ist, sind die verschiedenen Richtungen, in die der Pinselstrich geht, der so eine kleine Dynamik in der Strenge erzeugt.

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Piet Mondrian: „Komposition mit Blau und Gelb“, 1932, Öl auf Leinwand, 45,4 x 45,4 cm, Denver Art Museum.
© 2014 Mondrian/Holtzman Trust
c/o HCR International USA

Leider nicht in der Pressedatenbank: die Komposition mit Linien und Farben III (1937), die ich persönlich am liebsten mochte. Auch vor diesem Bild stand ich gefühlt ewig rum, während hinter mir die BesucherInnen kurz anhielten, guckten, innerlicher Monolog wahrscheinlich: „Linien, blaues Rechteck, alles klar, hab ich, weiter“ und zum nächsten Bild gingen. Klar kann man so auf abstrakte Bilder gucken und ich gebe zu, auf die meisten neuen Richter-Bilder gucke ich inzwischen so. (Mein derzeitiges Lieblingsspiel in jedem zeitgenössischen Museum: Spot the Gerhard Richter. Funktioniert immer. Kurz den Blick schweifen lassen, ah, da hinten hängt er, alles klar, hab ich, weiter.) Man kann aber eben auch gefühlt ewig davor stehen. Mir ist bei diesem Bild zum ersten Mal aufgefallen, dass ich abstrakte Bilder genauso angucken kann wie nicht-abstrakte. Bei einem Raffael gucke ich immer nach der Feinheit des Heiligenscheins, nach den Augen und Lippen. Bei van der Weyden achte ich auf Hautgestaltung, Handhaltung, Faltenwurf der Kleidung. Bei einem van Gogh vertiefe ich mich in Pinselstrich und Farbauftrag. Und bei diesem Mondrian war ich damit beschäftigt, die Linienstärke zu betrachten, die nicht überall gleich ist. Ich habe geschaut, ob alle Linien bis an den Bildrand gehen (gehen sie nicht). Wie dicht sie aneinander liegen bzw. wie weit auseinander. Wo kreuzen sich Linien, wo stoßen sie nur aufeinander? Das Bild hat mir durch die intensive Betrachtung die gleiche innere Ruhe bzw. Transzendenz vermittelt wie die angesprochenen Raffaels und van der Weydens, vor denen ich ähnlich lange stehe und mich schlicht in ihnen und ihren Details verliere. Das habe ich selten vor einem abstrakten Gemälde, und daher war ich freudig überrascht, als ich entdeckte, dass das auch möglich ist.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 11. Mai, ist täglich von 11 bis 19 Uhr (Donnerstags bis 21 Uhr) geöffnet und kostet 8 Euro Eintritt (ermäßigt 5, für Kunstgeschichtsstudis und alle unter 18 frei). Auch den Katalog kann ich empfehlen; die Bilder sind nicht ganz so toll, wie ich sie gerne hätte, aber die Texte fand ich sehr aufschlussreich und lesenswert. Den Audioguide kann man sich übrigens schon vor dem Besuch runterladen.

Kunst gucken: „Rodtschenko – Eine neue Zeit“ im Bucerius Kunst Forum

Für meine Hausarbeit im zweiten Semester über Alexander Archipenkos Schreitende Frau habe ich wieder wild in der Gegend herumgelesen wie im ersten Semester bei Hans Memling auch schon. Ich habe mir bewusst einen Künstler bzw. ein Werk ausgesucht, von dem ich noch nie gehört hatte, eben weil ich dann wild in der Gegend rumlesen muss, um es einordnen zu können. Die erste Einordnung fand natürlich schon im Kurs statt, wo zum Beispiel Wladimir Tatlin und seine Konterreliefs bzw. das Denkmal für die III. Internationale erwähnt wurden (beide hier zu sehen) oder natürlich das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Seitdem weiß ich, wo in russischen Wohnstuben die Ikone hängt, nämlich da, wo in der Ausstellung 0.10 1915 das Schwarze Quadrat hing.

Wen ich noch kennenlernte: Alexander Rodtschenko und seine Raumkonstruktionen von 1920/21, die ich im Kopf immer mit der Schreitenden Frau verbinde. Umso mehr hat es mich gefreut, dass in Hamburg gerade eine Ausstellung über Rodtschenko läuft, und dort stehen und hängen auch – rekonstruiert – seine Raumkonstruktionen.

Rodtschenko Ausstellung

Ausstellungsansicht v.l.n.r: Raumkonstruktionen Nr. 12 (Oval im Oval), Nr. 22, Nr. 23, Nr. 13 (Dreieck im Dreieck), Nr. 8 (Kreis im Kreis), Nr. 11 (Quadrat im Quadrat), alle Werke von 1920/21. Foto: Ulrich Perrey.

Ganz kurz gesagt, ist das Besondere an der Schreitenden Frau der durchbrochene Oberkörper und Kopf. Archipenko ist der erste Bildhauer, der Masse weglässt und den dadurch entstandenen Raum als Teil der Skulptur begreift:

„Es existierte der traditionelle Glaube, daß die Skulptur da anfing, wo das Material den Raum berührt. Somit verstand man unter Raum eine Art Einrahmung der Masse. Ich experimentierte im Jahre 1912, indem ich von der umgekehrten Idee ausging. Ich erklärte, daß Skulptur da beginnen könne, wo der Raum vom Material umschlossen ist. In solchen Fällen ist es das Material, das zum Rahmen rund um eine Raumform wird.“ (1)

Mit Archipenko entstand so die Idee, dass Raum, Luft, Lichteinfall und als Konsequenz auch Bewegung Teil einer Skulptur sein können. In dieser gedanklichen Tradition schuf Rodtschenko seine Raumkonstruktionen. Bei ihnen gilt es nicht nur, das hölzerne Gebilde zu sehen, sondern auch die Bewegung und den sich dadurch ständig verändernden Schattenwurf einzubeziehen. Das schafft die Ausstellung sehr schön, indem die Werke sehr zentral aufgehängt sind; um sie herum stehen weiße Stoffleinwände, und diverse Spots erzeugen vielfältige Schatten, sowohl auf dem Boden als auch auf den Leinwänden. Man kann die Plattform, über der die Werke hängen, umrunden und sie so von allen Seiten und mit unterschiedlichen Schattenwürfen betrachten.

Rodtschenko ging es aber in seinem Werk aus dieser Zeit nicht nur um die Raumwirkung von Konstruktionen, sondern er experimentierte auch in Bildern mit Farben und Linien. Während zum Beispiel Picasso oder Braque in Paris versuchten, dreidimensionale Körper in Farbflächen zu zerlegen und damit die Realität zu abstrahieren, ging Rodtschenko noch einen Schritt weiter: Für ihn war ein Bild ein selbständiges Ding, es musste nichts abbilden, nichts darstellen, es war und galt ganz für sich. In seinen Werken experimentierte er mit Farbkontrasten bzw. verschiedenen Farbaufträgen und ihrer Wirkung. Diese Bilder haben mir ganz besonders gefallen, eben weil sie so für sich stehen. Man muss sie nicht ergründen oder in ihnen nach etwas suchen, man kann sich ihnen einfach hingeben. (Total unwissenschaftlich.)

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„Komposition Nr. 66 (86), Dichte und Gewicht“ (1919), Öl auf Leinwand, 122,3 x 73,5 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

(Hehe: Dieses Bild stand in der Pressedatenbank, für die ich mir brav eine Akkreditierung geholt habe, auf dem Kopf. Vielleicht ein Test?)

In weiteren Gemälden reduziert Rodtschenko noch weiter und nutzt nun die Linie als Darstellungsmöglichkeit. Sie stand bisher nicht im Zentrum der Malerei, sie umfasste nur Farbflächen oder schuf den Gegenstand, den sie umriss. Für Kandinsky war sie „Vermittler des Geistigen, das die materielle Welt überwinden sollte. Für Rodtschenko dagegen war die Linie ein präzises Werkzeug, ein bildnerisches Mittel zur Darstellung von Licht, Raum und Bewegung. Damit legte er den Grundstein für die kinetische Kunst des 20. Jahrhundert.“ (2)

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„Konstruktion Nr. 92 auf Grün“ aus der Serie „Lineismus“ (1919), Öl auf Leinwand, 73 x 46 cm, Regionales A. und W. Wasnezow Kunstmuseum, Kirow. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Einschub: Die kinetische Skulptur hat zum Beispiel Naum Gabo umgesetzt. Seine Standing Wave von 1919/20 (hier in riesengroß) besteht aus Metallstäben, die durch einen Motor in Schwingung versetzt werden. Erst die konstante Bewegung lässt vor unserem trägen Auge einen Körper entstehen.

Was die Linien in der Ausstellung angeht: Ich fand es sehr charmant, dass die Grundlinien, auf denen die Überschriften der Wandtexte stehen, stets ganz leicht nach links gekippt waren. Damit stand ein schräger Text über der geraden Copy, rot über schwarz – das passte sehr schön ins konstruktivistische Gesamtbild.

Rodtschenkos Schaffen umfasste aber nicht nur Skulptur (bzw. Konstruktion) und Malerei, sondern er widmete sich auch der Gestaltung von Alltagsgegenständen, der Fotografie und der Werbegrafik. Das Design, was im Bucerius Kunst Forum an den Wänden hängt, lässt diverse Grafikpraktis sabbern (und mich auch), weil es auch nach fast 100 Jahren schick aussieht. Außerdem habe ich mich sehr über folgenden Satz an einem Exponat gefreut: „Der Text stammt von Majakowski, der zusammen mit Rodtschenko das erfolgreiche Werbekollektiv Reklam-Konstruktor betrieb.“ Reklam-Konstruktor! Alleine dafür möchte ich eine Agentur gründen.

Zurück zur Kunst: Mein liebstes Exponat war natürlich die Dame, die „BÜCHER!EINSELF11!!“ schreit.

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„Bücher“. Werbeplakat mit dem Portrait von Lilja Brik für den Staatsverlag Lengis (1925), Druck, 56,5 x 80 cm, Sammlung Rodtschenko/Stepanowa, Moskau. © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.

Die Ausstellung Rodtschenko – Eine neue Zeit läuft noch bis zum 15. September und lohnt sich sehr, weil sie es schafft, ein so breites Werk wie das Rodtschenkos zu komprimieren, ohne dass man das Gefühl hat, es entgeht einem etwas. Nebenbei waren alle Menschen im Bucerius Kunst Forum äußerst nett und zuvorkommend, der Ausstellungskatalog ist schick, UND man kommt als Kunstgeschichtsstudi umsonst rein. Like!

(1) Schnell, Werner: Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980, S. 117, im englischen Original Archipenko, Alexander: Fifty Creative Years, New York 1960, S. 56.
(2) Kat. Ausst. Rodtschenko – Eine neue Zeit, Bucerius Kunst Forum Hamburg, 8. Juni bis 15. September 2013, Hamburg 2013, S. 121.