Warum hier länger nichts los war

Mich hatte ein Referat im Griff.

In meinem Kunstgeschichtskurs über bayerische Klöster seit den Karolingern wurden nicht wie sonst in der ersten Semesterwoche die Referate verteilt, sondern erst in der zweiten Sitzung. Und da Frau Naseweis ja unbedingt das Mittelalter wollte, wurde ihr Referatwunsch entsprechend quittiert: „Gut, dann sind Sie in zwei Wochen die erste.“ Ächz.

Zwei Wochen hört sich nach viel Zeit an (jedenfalls war halb Twitter dieser Meinung), aber ich habe in den letzten Semestern festgestellt, dass ich mit mindestens drei Wochen am besten arbeite. In der ersten Woche lese ich kreuz und quer alles, was mir unter die Finger kommt, am liebsten Aufsätze, denn die sind kürzer als Bücher und schon sehr speziell, was es mir erleichtert, eine ebenso spezielle Fragestellung zu entwickeln, mit der ich mich im Referat beschäftigen möchte. Außerdem dient die erste Woche dazu, in der Unibibliothek und der Stabi alles zu bestellen, was ich klicken kann und dann drei bis fünf Tage darauf zu warten, dass die Bücher in meinem Abholfach liegen.

In der zweiten Woche, in der ich so gut wie alles Material habe, das ich brauche, lese ich gründlicher bzw. suche gezielter nach Antworten auf die Frage, die ich hoffentlich inzwischen formuliert habe. Meist finde ich in Fußnoten noch weitere Literatur, in die ich mal reingucken will, und da ich ja noch über eine Woche Zeit bis zum Referat habe, klappt das meistens auch.

In der dritten Woche steht mein Referat schon ziemlich. Ich halte es mir selbst einmal, wobei ich grundsätzlich merke, was geht und was nicht: Wo muss ich Inhalte vorziehen oder zurückstellen, damit mir meine ZuhörerInnen folgen können, wo brauche ich ein Bild, wo nicht und was muss ich kürzen, damit ich nicht länger als die geforderten 20 Minuten werde. Ich musste bis jetzt immer kürzen: Wo ich am ersten Tag denke, keine Ahnung, wie ich jemals die Zeit rumkriegen soll, habe ich schon nach wenigen Tagen meist genug, um eine Stunde zu reden.

Wenn das Referat steht, bastele ich die Präsentation dazu. In Kunstgeschichte wollen wir immer Bilder sehen, in Geschichte war das bisher noch nicht nötig, aber das ändert sich vermutlich nächste Woche, denn da steht lustigerweise schon das nächste Referat an, weswegen es hier wahrscheinlich nach diesem Eintrag wieder ruhiger wird. Nach der Präsentation kommt noch das Handout für die KommilitonInnen, das quasi aus meinem Referat besteht, das ich auf Stichpunkte runterkürze und mit einer kleinen Literaturliste versehe.

Was ich an drei Wochen Zeit auch schätze, ist die Möglichkeit, zwischendurch einen Tag alles liegenlassen zu können. Ich mag es sehr gerne, den Kopf alleine weiterarbeiten zu lassen, während ich mich um andere Dinge kümmere, um dann nach einem Tag Pause frisch auf alles draufzugucken. Die drei Wochen geben mir auch einen kleinen Puffer, falls einer der hirntoten Tage kommt, an denen nichts geht. Das kenne ich schon von der Arbeit: Es gibt einfach Tage, an denen weißt du, dass du jeden Satz, den du jetzt gerade schreibst, morgen wieder löschst, weil er fürchterlich ist. Das beunruhigt mich nicht mehr so wie früher, weil ich weiß, dass das nur eine Phase ist. Diese Ruhe habe ich an der Uni aber noch nicht, weil ich mich da um lauter Themen kümmere, um die ich mich vorher noch nie gekümmert habe. In der Werbung, gerade wenn es um Autokataloge geht, weiß ich, was auf mich zukommt. In meinen Referaten weiß ich das nicht, da finde ich dauernd neue Fakten und Daten und lustige Einzelheiten, die ich gestern noch nicht wusste und die manchmal meine schöne These ruinieren, weswegen ich noch mal neu rangehen muss. Und dann ist es praktisch, wenn man drei Wochen Zeit hat.

Zu guter Letzt bietet mir diese Zeit auch die Möglichkeit, über den Tellerrand wegzugucken: Ich befasse mich nicht nur mit meinem speziellen Thema, sondern schaue mir auch das Umfeld an. Bei Hans Memling also: Was hat er von seinem (vermuteten) Lehrmeister Rogier van der Weyden mitgekriegt und wie malten die Italiener zu seiner Zeit? Bei Archipenko: Wie sah die Kunstszene in Paris und Berlin in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts aus, was machten Picasso, Brancusi und Gris gerade? Und bei den German Sales: Wie sehen andere Datenbanken aus, was Inhalte und Funktionalität angeht? Ich sitze dann vorne nicht wie ein Fachidiot, sondern kann einschätzen, wo sich mein Thema einordnet.

Das ging dieses Mal alles nicht. Zusätzlich lag der 1. Mai in meiner Vorbereitungszeit, an dem alle Bibliotheken geschlossen haben, und von den wichtigen Büchern konnte ich mir gerade eins ausleihen, alle anderen standen im Historicum oder meiner geliebten KuGi-Bib, was mir aber am Feiertag so gar nichts brachte. Netterweise war ausgerechnet der 1. Mai der Tag, an dem mein Kopf überhaupt keine Lust hatte, weswegen das nicht weiter schlimm war. Trotzdem war es wieder ein Tag weniger, und ich war eh schon nervös genug, denn übermäßig viel Literatur hatte ich nicht gefunden, vor allem kaum wirklich neue, was der Dozent explizit gefordert hatte: „Nichts, was älter ist als zehn Jahre.“

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(Grundrissrekonstruktion der ersten Klosterkirche. Quelle: Dannheimer, Hermann: Frauenwörth. Archäologische Bausteine zur Geschichte des Klosters auf der Fraueninsel im Chiemsee, München 2005, S. 40.)

Mein Thema war das Kloster Frauenwörth auf Frauenchiemsee. Die Ansage: „Was wissen wir eigentlich über Torhalle und Kirche?“ Ich suchte im OPAC also brav nach dem Kloster, fand eine Aufsatzsammlung von 2003 und entschied, die geht gerade noch, sowie einen Ausgrabungsbericht von 2005. Der brachte mich zu einem Grabungsbericht von 1966, und zusätzlich fand ich Rezensionen zu diesen Berichten, die die wissenschaftliche Diskussion der letzten 50 Jahre in Ansätzen nachzeichneten. Die Berichte befassten sich aber nicht nur mit Torhalle und Kirche, sondern auch mit den Klostergebäuden, dem Campanile, dem Friedhof und einzelnen Details wie den Bildprogrammen in der Kirche, einer Kapelle in der Torhalle und dem Kirchenportal mit seinem Tympanon und dem Türzieher. Ich hatte also einen Berg an Zeug und fand blöderweise immer mehr Zeug, denn die eben angesprochenen wissenschaftlichen Diskussionen wollte ich gerne selbst nachvollziehen. Das heißt, ich verließ mich nicht auf einen Halbsatz in einer Rezension, sondern suchte die Originalquelle. Deswegen verfranste ich mich langsam in der Stofffülle – was genau an der Torhalle und der Kirche wollte ich eigentlich besprechen? Die Architektur? Die Ausgrabungen? Die Bildprogramme?

Am Wochenende vor dem Referat war ich kurz davor, das Ding abzusagen, weil ich immer noch keinen roten Faden hatte, immer noch keine wirkliche Frage, aber dafür immer mehr Daten, Fakten und Namen, die sich in meinem Kopf gefühlt zu nasser Watte knüllten, ohne eine Chance für mich, irgendetwas fassen zu können. Ich erzählte mir meine Stoffsammlung selber, um so ein Ziel zu finden, fand es zwar nicht, merkte aber, dass ich mal wieder viel zu viel hatte und brach nach 35 Minuten Reden ab. Die Bildprogramme flogen raus, aber mehr wusste ich nicht. Erst beim Einschlafen kam der rettende Gedanke, der mir heute so logisch erscheint, dass ich mich frage, wieso ich nicht früher draufgekommen bin: Ich vergleiche die beiden Grabungsergebnisse und ihre Rezensionen und erzähle ganz simpel nach, einmal für die Kirche, einmal für die Torhalle, welcher Wissenschaftler wann was gesagt hat und wie er es begründet. Also: Wissenschaftler A findet ein altes Fundament unter der bisher als ältesten Kirche angenommenen, datiert es auf dann und dann und glaubt, es könnte eine Saalkirche gewesen sein. Wissenschaftler B glaubt, es könnte eine dreischiffige Basilika gewesen sein und begründet das so. Wissenschaftler C sagt, alles Quatsch, Jungs, Saalkirche it is und zwar deswegen. Genauso mit der Torhalle: „Der Putz ist von dann und dann.“ „Ja, aber der Holzfußboden ist älter.“ „Schnickschnack, Fußboden, ich hab hier einen Holzspan im nachweisbar ältesten Kalkmörtelestrich und der ist noch älter, ätsch!“

Damit konnte ich endlich mal wieder beruhigt schlafen, kürzte am Dienstag meinen Textwust auf eine anständige Menge runter und bereitete gleichzeitig die Präsentation vor. Im Laufe meiner Stoffsammlung hatte ich mir immer brav aufgeschrieben, wo welcher Grundriss und wo welches Diagramm zu finden war, um es schnell einscannen zu können. Das hatte ich Montag schon gemacht – viel zu viel gescannt, aber egal, das hatte ich jetzt Dienstag alles griffbereit und konnte es gemütlich in Keynote ziehen. Dienstag abend nahm ich mir frei, um am Mittwoch, nach der üblichen Nacht-zum-drüber-Schlafen, aus dem Referat das Handout zu erstellen. Dafür brauchte ich bis 22 Uhr – ich hatte ja auch noch Uni und Hausaufgaben –, hielt mir dann quasi zum ersten und einzigen Mal das Referat mit der Präsentation zusammen und ging gefühlt so unvorbereitet wie nie ins Bettchen.

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(Portal mit Tympanon der Klosterkirche Frauenwörth. Quelle: Brugger, Walter/Weitlauff, Manfred (Hrsg.): Kloster Frauenchiemsee 782–2003. Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer altbayerischen Benediktinerinnenabtei, Weißenhorn 2003, S. 69.)

Am Donnerstag saß ich ab acht in der Uni, konnte da also auch nicht mehr machen als in jeder Pause zwischen den Seminaren noch mal meine Notizen zu überfliegen, wenn ich nicht gerade mit Gebäude- bzw. Raumwechsel oder Jogurt essen beschäftigt war. Um 14 Uhr war ich dann dran – dachte ich jedenfalls. Aber eine Kommilitonin begann vor mir: Ihr Thema war St. Emmeram in Regensburg, das weitaus wichtigere Kloster als mein kleines, schnuffiges Frauenwörth, an das ich ein bisschen mein Herz verloren habe. Sie begann, ohne ein Handout auszuteilen, was mich etwas wunderte, aber ich wollte auch nicht danach fragen. Das hatte ich auch schon öfter gesehen: Referentinnen, die so nervös waren, dass ihnen erst nach ihrem Referat einfiel, dass sie ja noch ein Zettelchen für uns hatten. Also sagte ich nichts, sondern hörte ihr zu, wenn auch etwas angestrengt, weil ich keinen roten Faden fand. Der Dozent anscheinend auch nicht, denn nach fünf Minuten stellte er die Killerfrage: „Geht das so weiter?“ Der Kurs zuckte wahrscheinlich ähnlich fies innerlich zusammen wie ich, keine Ahnung, wir saßen nur lämmergleich da und guckten starr nach vorne, wo die Referentin sich ihr eigenes Grab schaufelte, indem sie auf die Frage, welche Literatur sie denn benutzt habe, antwortete: „Ich hab ein paar Kirchenführer gelesen.“

Daraufhin wurde die Atmosphäre noch mal ungemütlicher, ich verabschiedete mich innerlich von einer guten Note, ging aber nach einer etwas lauteren Ansprache des Dozenten an den Kurs nach vorne und begann, mein Macbook mit dem Beamer zu verbinden, was meist nie auf Anhieb klappt. Währenddessen fragte eine Kommilitonin, wie sich der Dozent denn ein gutes Referat vorstellte; die Antwort habe ich nicht mitgekriegt, ich befand mich in den Systemeinstellungen und betete, dass die Beamergötter mich heute bitte liebhaben mögen, was sie taten: Alles ging, ich teilte mein Handout aus und hielt mein Referat, von dem ich bis eine Sekunde nach dem „Danke für eure Aufmerksamkeit“ nicht wusste, ob es totaler Quatsch war. War es anscheinend nicht, denn nachdem ich fertig war, drehte sich der Dozent zu der Kommilitonin von vorhin um und meinte: „Um Ihre Frage noch mal zu beantworten: So stelle ich mir ein gutes Referat vor.“

Ich war äußerlich natürlich professionell unbeeindruckt, aber eigentlich war ich Beckerfaust und innerer Reichsparteitag.

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Gelernt: Ich kann anscheinend in zwei Wochen ein ziemlich gutes Referat hinkriegen. Dafür komme ich aber nicht mehr zum Bloggen, zu Museumsbesuchen oder zum entspannten Biergartensitzen. Daher bleibe ich lieber bei meinem Drei-Wochen-Rhythmus. Dann bin ich auch weitaus ausgeglichener und muss vor allem keine Jobs für Geld absagen, was ich letzte Woche in meiner Unizeit das erste Mal getan habe, weil ich meinem Kopf und meinem Zeitplan schlicht kein Platz mehr war.

Und jetzt stürze ich mich wieder ins nächste Referat, dieses Mal über die Gartenlaube. Ich freue mich schon sehr auf das Buch über die Mund- und Kieferheilkunde in dieser Publikation.