Kunstkataloge online

Open Culture weist auf zwei Museen hin, die einen Berg von Katalogen online und umsonst zum Lesen (sowie teilweise zum Download) anbieten. Das passt zu meiner derzeitigen Vorlesung „Amerikanische Kunst nach 1945“ hervorragend.

Hier geht’s zum Guggenheim-Museum, bei dem man 65 Kataloge online lesen kann. Bei Archive.org findet man die Schätze auch zum Runterladen.

Und im Metropolitan warten ganze 394 Kataloge auf euch.

Vielen Dank an Schneefreundin, die mich per Twitter auf diese Schätze aufmerksam gemacht hat.

Über die Moderne

„Der Rest des Abstrakten im Begriff der Moderne ist sein Tribut an diese. Wird unterm Monopolkapitalismus weithin der Tauschwert, nicht mehr der Gebrauchswert genossen, so wird dem modernen Kunstwerk seine Abstraktheit, die irritierende Unbestimmtheit dessen, was es sein soll und wozu, Chiffre dessen, was es ist. Solche Abstraktheit hat nichts gemein mit dem formalen Charakter älterer, etwa den Kantischen ästhetischen Normen. Vielmehr ist sie provokativ, Herausforderung der Illusion, es wäre noch Leben, zugleich Mittel jener ästhetischen Distanzierung, die von der traditionellen Phantasie nicht mehr geleistet wird. Von Anbeginn war ästhetische Abstraktion, bei Baudelaire noch rudimentär und allegorisch als Reaktion auf die abstrakt gewordene Welt, eher ein Bilderverbot. Es gilt dem, was schließlich die Provinzialen unterm Namen der Aussage sich herüberzuretten hofften, der Erscheinung als einem Sinnhaften: nach der Katastrophe des Sinns wird Erscheinung abstrakt. Solche Sprödigkeit ist, von Rimbaud bis zur gegenwärtigen avantgardistischen Kunst, äußerst bestimmt. Sie hat so wenig sich geändert wie die Grundschicht der Gesellschaft. Abstrakt ist die Moderne vermöge ihrer Relation zum Dagewesenen; unversöhnlich dem Zauber, kann sie nicht sagen, was noch nicht war, und muß es doch wider die Schmach des Immergleichen wollen: (…)

Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert; Explosion ist eine ihrer Invarianten. Antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wirbel. Insofern ist Moderne Mythos, gegen sich selbst gewandt; dessen Zeitlosigkeit wird zur Katastrophe des die zeitliche Kontinuität zerbrechenden Augenblicks; Benjamins Begriff des dialektischen Bildes enthält dies Moment. Selbst wo Moderne traditionelle Errungenschaften, als technische, festhält, werden sie aufgehoben von dem Schock, der kein Ererbtes unangefochten läßt. Wie die Kategorie des Neuen aus dem historischen Prozeß resultierte, der die spezifische Tradition zuerst und dann eine jegliche auflöste, so ist Moderne keine Aberration, die sich berichtigen ließe, indem man auf einen Boden zurückkehrt, der nicht mehr existiert und nicht mehr existieren soll (…).“

Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, S. 39–41, in: Tiedemann, Rolf (Hrsg.), Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 2003.

Über das Wesen der Kunst

„Ungewiß, ob Kunst überhaupt noch möglich sei; ob sie, nach ihrer vollkommenen Emanzipation, nicht ihre Voraussetzungen sich abgegraben und verloren habe. Die Frage entzündet sich an dem, was sie einmal war. Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre. Damit tendieren sie a priori, mögen sie noch so tragisch sich aufführen, zur Affirmation. Die Clichés von dem versöhnenden Abglanz, der von der Kunst über die Realität sich verbreite, sind widerlich nicht nur, weil sie den empathischen Begriff von Kunst durch deren bourgeoise Zurüstung parodieren und sie unter die trostspendenden Sonntagsveranstaltungen einreihen. Sie rühren an die Wunde der Kunst selber. Durch ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung, eine Säkularisierung, ohne welche Kunst nie sich entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu, dem Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der, bar der Hoffnung auf ein Anderes, den Bann dessen verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte. Solchen Zuspruchs ist das Autonomieprinzip selbst verdächtig: indem es sich vermißt, Totalität aus sich zu setzen, ein Rundes, in sich Geschlossenes, überträgt dies Bild sich auf die Welt, in der Kunst sich befindet und die diese zeitigt. Vermöge ihre Absage an die Empirie – und die ist in ihrem Begriff, kein bloßes escape, ist ein ihr immanentes Gesetz – sanktioniert sie deren Vormacht. Helmut Kuhn hat in einer Abhandlung, zum Ruhm der Kunst, dieser attestiert, ein jedes ihrer Werke sei Lobpreisung (1). Seine These wäre wahr, wenn sie kritisch wäre. Angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden. Sie muß gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht, und wird dadurch ungewiß bis in die innerste Fiber hinein. Nicht jedoch ist sie durch ihre abstrakte Negation abzufertigen. Indem sie angreift, was die gesamte Tradition hindurch als ihre Grundschicht garantiert dünkte, verändert sie sich qualitativ, wird ihrerseits zu einem Anderen. Sie vermag es, weil sie die Zeiten hindurch vermöge ihrer Form ebenso gegen das bloß Daseiende, Bestehende sich wendete, wie als Formung der Elemente des Bestehendem diesem zu Hilfe kam. So wenig ist sie auf die generelle Formel des Trostes zu bringen wie auf die von dessen Gegenteil.

(1) Vgl. Helmut Kuhn, Schriften zur Ästhetik, München 1966, S. 236 ff.“

Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, S. 10/11, in: Tiedemann, Rolf (Hrsg.), Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 2003.

Kunst gucken: Gemäldegalerie Berlin

Unsere Dozierenden lassen gefühlt in jeder dritten Sitzung folgenden Text los: „Geht ins Museum, geht ins Museum, geht jede verdammte Woche in ein verdammtes Museum, verdammt noch ma!“ Okay, sie fluchen weniger und siezen uns, aber bei mir kommt diese Aussage an. Und seitdem ich gestern in der Gemäldegalerie war, weiß ich auch, warum sie so quengeln.

Rogier van der Weyden, „Junge Frau mit Flügelhaube“, 47 × 32 cm, Öl auf Eichenholz, um 1435/40, hier in riesengroß und in toller Qualität beim Google Art Project. Hier noch mehr aus der Gemäldegalerie.

Vorneweg: Meine Güte, hängt in der Gemäldegalerie tolles Zeug. Ich hätte gerne ein zweites Paar Augen und Füße gehabt, denn unter anderem die Niederländer des 16. und 17. Jahrhunderts habe ich sträflich vernachlässigt, weil ich wusste, dass noch Reynolds und Gainsborough und Poussin und Watteau und Giotto und Mantegna kommen. Da wurden van Dyck und Rubens nur kurz angeguckt, Vermeer und Rembrandt habe ich nicht mal gesehen, weil ich noch diverse Räume vor mir hatte – von denen es übrigens irre viele gibt. Man kann rechts oder links vom Eingang mit dem Rundgang anfangen, was einen zunächst in der Zeit nach vorne bringt und dann nach der Hälfte wieder zurück. Entweder man fängt mit den Deutschen und ihren goldenen Madonnen im 14./15. Jahrhundert an (hab ich gemacht) und hangelt sich dann durch die alten Niederländer des 15. Jahrhunderts (bei denen bin ich am längsten geblieben) zu den Engländern und Franzosen des 18. Jahrhunderts, um dann zeitlich wieder zurückzugehen und schließlich bei den Italienern im 13. Jahrhundert zu enden. Oder man geht andersrum. Das mache ich nächstes Mal, dann kann ich nämlich noch was sehen.

Das Bild da oben ist eines der Bilder, über die wir in meiner Lieblingsvorlesung „Altniederländische Malerei“ im letzten Semester gesprochen haben. Ich kannte das Bild schon vorher, denn bei meinem Memling-Referat im 1. Semester bin ich natürlich auch über Memlings Lehrherren van der Weyden gestolpert und habe dessen Werke immerhin mal per Bildband überflogen. Aber so richtig angeschaut habe ich sie mir anscheinend nicht, weder beim Referatvorbereiten noch in der Vorlesung im 2. Semester. Ich habe mir das Bild brav für die Klausur gemerkt, aber erst jetzt, wo ich davorstand, konnte ich es richtig würdigen. Und damit komme ich wieder zum Gequengel der Dozierenden. Totaler Allgemeinplatz, aber: Ja, Bilder sehen im Museum anders aus als im Buch in der Bibliothek. Bzw. man entdeckt an ihnen Details, die einem bisher nicht aufgefallen waren, sei es, weil die Vorlage zu klein oder zu schlecht war oder man eben einfach nicht die Muße hatte, mal länger hinzugucken.

So ist mir bei der jungen Frau natürlich schon beim ersten Blick, den ich auf sie warf, die titelgebende, aufwendig gefaltete Haube aufgefallen. Was ich bisher nicht gesehen hatte, obwohl es so deutlich ist: die kleine Nadel, die die Haube auf der rechten Kopfseite zusammenhält. Auch auf der linken Seite scheint eine zu stecken, sie ist aber verdeckt, und unterhalb des ebenfalls verdeckten Ohres ist auch eine Art Befestigung. Dass die Damen in dieser Zeit ihre Stirn rasierten, wusste ich bereits, aber erst jetzt ist mir aufgefallen, dass der obere Teil der Haube leicht durchsichtig ist; man sieht die nackte Haut der Stirn ganz leicht durch den Stoff schimmern. Und was mich völlig fasziniert hat: die harten Falten im Stoff bzw. die Stofflichkeit überhaupt. Dass das keine weich fallende Seide ist, war mir schon klar, aber erst als ich vor dem Bild stand, sah ich den rauen, widerspenstigen Stoff vor mir, in den – wie auch immer – ganz klare, scharfe Falten gezwungen wurden, um ihn zu glätten. Und die scheinen sich auch beim Tragen nicht aufzulösen, die bleiben hart und unnachgiebig. Man kann ganz deutlich die verschiedenen Lagen des Stoffes sehen, man meint fast, jeder Faser nachspüren zu können, so fein ist das grobe Gewebe gemalt. Ich mochte die Dame schon vorher – jetzt finde ich sie großartig.

Petrus Christus, „Bildnis einer jungen Frau“, 29 × 22,5 cm, Tempera und Öl auf Holz, um 1470

Das nächste Bild, bei dem ich alle quengelnden Profs im Kopf hatte, war der Monforte-Altar von Hugo van der Goes, 147 x 242 cm, Öl auf Eichenholz, um 1470 gemalt. Bei dem Bild erkannte ich zum ersten Mal die wenigen Strohhalme, die im Bildvordergrund zu Füßen der Maria auf dem Boden lagen. Hatte ich vorher nicht bemerkt. Ich konnte die minutiös gemalten Blumen rechts und links im Bild würdigen, die juwelenbesetzte Pelzhaube mit ihren feinen Härchen sowie die schwere, edle Stofflichkeit der Mäntel der Könige.

Und ich konnte die Begeisterung unseres Professors noch besser nachvollziehen. (Ich habe leider meine Notizen aus der Vorlesung in München, daher kann ich nur noch aus dem Kopf zitieren, und ich hoffe, es ist kein kompletter Blödsinn.) Ich meine mich daran zu erinnern, dass er sagte, dass dieses Bild sich in seiner Bewegung stark von den anderen alten Niederländern unterscheidet. Wenn man sich zum Vergleich mal den Johannesalter von Rogier van der Weyden von 1455 anschaut – der also gerade 15 Jahre älter ist –, wirkt der Monforte-Alter deutlich lebendiger, weniger stilisiert, fast filmisch. Wobei die Stilisierung bei van der Weyden durchaus gewollt ist. Aber van der Goes wollte eben was anderes, er wich von der jahrzehntelang erfolgreichen Formel für Adorationsaltäre ab und das kam dabei raus. Ich finde, es ist kein Wunder, dass uns dieser Altar mehr oder eher anspricht, eben weil er lebendiger ist. Man sieht fast die Handbewegung des Königs in schwarz, der gerade zum goldenen Pokal greift. Gleich werden die Männer, die rechts durch die Stalltür lugen, miteinander sprechen, gleich werden die Knappen in der Bildmitte ihren Blick von links nach rechts schweifen lassen. Und da, direkt über den Knappen, läuft ein Eichhörnchen auf dem Holzbalken, das sicherlich gleich zum Sprung ansetzt. Der Monforte-Altar fühlt sich fast wie ein Standbild aus einem Film an und unterscheidet sich damit deutlich von den älteren Altären (und durchaus auch von jüngeren).

Was sich auch erst in seiner ganzen Schönheit offenbart, wenn man selbst vor dem Bild steht, ist seine Farbigkeit. Alleine dadurch werden die zwei Menschengruppen im Vordergrund subtil, aber deutlich voneinander getrennt: die Gruppe mit Maria und dem ersten König ist in Rot- und Blautönen sowie den Mischtönen aus diesen Farben gekleidet, die beiden anderen Könige sind dunkler, erdiger, sie rücken optisch ein wenig in den Hintergrund, obwohl sie perspektivisch genauso so weit vorne im Bild stehen wie die andere Gruppe. Auch dadurch wirkt das Bild trotz seiner vielen Protagonisten ruhig und nicht überfüllt.

Und: das Licht. Guckt euch mal die rechte Hand des Königs in schwarz in Großaufnahme an (I ♥ Google). Man sieht an Marias Schatten, dass das Licht von rechts in den Stall fällt, aber besonders auffällig ist es an der Hand des Königs. Es scheint direkt auf seine Handfläche, die deutlich heller ist als der Handrücken; man sieht es gut in den Fingerzwischenräumen. Auch durch diese Lichtmodellierung wirkt die Figur lebendiger und nahbarer.

Hans Memling, „Bildnis eines Mannes“, 36,1 x 29,4 cm, Öl auf Eichenholz, um 1470/75

Ich gerate schon wieder ins Schwärmen. Kürzen wir ab: Wenn ich für die Klausur in der Vorlesung nicht nur die Maler und ihre Werke (und ab und zu ihr Entstehungsdatum), sondern auch ihre Aufbewahrungsorte gelernt hätte, hätte ich nicht dauernd innerlich „Ach, das ist auch hier?“ piepsen müssen. Ich habe mal kurz meine Folien durchgeklickt: Insgesamt habe ich hier 18 (!) Bilder gesehen, über die wir sprachen, darunter solche Schätze wie van Eycks Madonna in der Kirche, van der Goes’ Anbetung der Hirten, Gossaerts Neptun und Amphitrite, die vielen Altäre von van der Weyden und – die eine Hälfte des Ehepaarporträts, das in meinem Memling-Referat vorkam. Die andere Hälfte hängt im Louvre, und ich habe sie sehr vermisst, weil meine Augen sich so an beide zusammen gewöhnt haben.

Ich glaube, die Aufseher und Aufseherinnen haben mir irgendwann argwöhnisch hinterhergeguckt, weil ich so debil grinsend von einem bekannten Bild zum nächsten hüpfte und mich freute, meine Freunde wiederzusehen. Guckt weiter. Ich bin schnellstmöglich wieder bei euch.

(HACH!)

Kunst gucken: Sprengelmuseum Hannover

Als übermotivierte Studentin und brave Tochter dachte ich mir, fährste doch mal wieder nach Hannover, guckst dir ein Museum an und besuchst danach Mütterchen und Väterchen. Angerufen, Pläne verkündet – und dann etwas zusammengezuckt, als Mütterchen meinte: „Ach, da komme ich doch einfach ins Museum mit! Dann kannst du mir was erklären.“

Ich überlegte noch, ob ich schüchtern einwenden sollte, dass ich nach zwei Semestern gefühlt gar nichts weiß – vor allem nichts über das 20. Jahrhundert –, merkte dann aber selbst: Nee, stimmt nicht. Ich weiß schon ne Menge. Im Vergleich zum großen Ganzen natürlich gar nichts, aber wie ich schon beim letzten Kunsthallenbesuch schrieb: Ich gucke anders. Mal sehen, ob mein Mütterchen davon profitieren könnte.

Das Sprengelmuseum kenne ich noch aus der Zeit, in der ich in Hannover gewohnte habe, aber mein letzter Besuch müsste ungefähr 20 Jahre her sein. Ich erinnerte mich aber gut an die Räume von James Turrell und deswegen ging’s dahin auch zuerst.

Mein Lieblingsraum ist einer, an dem man sich mit einer Hand an einem Handlauf festhalten sollte, mit der anderen kann man an der Wand langstreichen, und dann geht es wenige Meter im Zickzackkurs in einen völlig verdunkelten Raum. Schon im Gang wird das Licht sehr schnell von diffus zu stockfinster, bis man sich im Raum links und rechts vom Gang zu zwei Stühlen getastet hat und Platz nimmt. Und dann sitzt man da und starrt ins Nichts. Oder versucht zu starren, denn man sieht eben – nichts. So eine komplette Finsternis kenne ich sonst nicht; von irgendwoher kommt immer ein Lichtschein, sei er auch noch so schwach, aber hier ist es schlicht schwarz. Man kann die Größes des Raums nicht einschätzen, auch wenn er nicht groß sein dürfte, die Stimmen hallen nicht, wobei die Wände, wie ich hinter mir ertaste, mit Stoff bespannt sind, der Geräusche dämpfen dürfte. Der Witz an diesem Raum ist, dass die Augen sich nach einigen Minuten an die Finsternis gewöhnt haben und dann ein Licht vor dir sichtbar wird. Ich erinnerte mich an ein graues Rechteck, das ich beim letzten Besuch irgendwann ganz schwach und diffus vor mir sah. Dieses Mal sehe ich aber ein Liniengewirr, und ich weiß nicht, ob ich mich schlicht an Quatsch erinnere, sich die Installation geändert hat oder mein Gehirn meinen Augen etwas vorgaukelt. Das graue Rechteck erscheint jedenfalls nicht. Meine Mutter sieht auch Linien, aber erst, nachdem ich davon gesprochen hatte. Ich überlege kurz, mein iPhone zu zücken und die Taschenlampe anzuwerfen, will mir den Raum aber auch nicht ruinieren. Denn ich mag das Gefühl sehr gerne, mal kurz das eigene Sensorium ausgeknipst zu bekommen.

Wir tasten uns wieder aus dem Raum heraus und gehen in den nächsten, wo eine helle Installation vor einer Wand zu schweben scheint. Wenn man länger hinschaut, weiß das Gehirn nicht mehr, was Licht und was Wand ist bzw. es kann sich nicht mehr entscheiden, ob da jetzt wirklich eine Wand ist oder nur Licht. Auch sehr lustig, wobei ich diesen Raum deutlich bunter in Erinnerung hatte. Ich gehe in 20 Jahren noch mal gucken, mal sehen, was dann passiert.

Das Haus hat keinen roten Faden, an dem man sich durch die Jahrzehnte hangelt, man kann irgendwo anfangen. Wir starten mit der Kunst nach 1945. Gleich im ersten Raum hängen einige Dubuffets, die ich inzwischen erkenne, wie ich mich innerlich piepsend freue. Mein Liebling ist die La voiture princière von 1961, an der ich den Bruch zwischen Bildtitel und Bildinhalt mag. Der „fürstliche Wagen“ ist ein Renault, die Figur, die darin sitzt, scheint mir ein gut gelaunter Mensch zu sein, der unadlig zur Arbeit fährt und zum Radio mitsingt anstatt Staatsgeschäften nachzugehen. In meiner Badewanne bin ich Kapitän. Und wenn dieses Bild etwas ganz anderes aussagen soll, ist mir das gerade egal, denn zum ersten Mal überlege ich nicht, ob meine Deutung wohl richtig ist, sondern ich nehme sie so hin. Wenn ich irgendwas in den letzten zwei Semestern Kunst und Musik gelernt habe, dann: Wenn du deine Meinung belegen kannst, dann stimmt die. Und so stehe ich nicht zögerlich und fragend vor einem Bild wie früher, sondern erzähle mir selbst (und Mama), was ich sehe. Und dann passt das. Toll.

Mein zweiter Liebling in diesem Raum ist Jean-Paul Riopelles Bei Nacht (Nuitamment) von 1956. Von dem Mann hatte ich noch nie gehört, will jetzt aber dringend mehr von ihm sehen. Wie bei Bildern von van Gogh kommt einem hier die Farbe entgegen, in so dichten Lagen ist sie auf die Leinwand verteilt, man kann das Werkzeug erkennen, das zum Verteilen benutzt wurde, zum Schichten und Kanten. Aber wo bei van Gogh jeder Pinselstrich Schmerz verrät, spürt man hier Dynamik und Kraft, Vorankommen, Bewegung. Mich hinterlässt das Bild trotz seiner Spannung absolut ruhig, so als ob die laute Großstadt mit ihren Neonlichtern, Spiegelungen und Farbkonstrasten kurz angehalten wurde, um sich mir in ihrer schillernden Schönheit zu präsentieren. Sobald ich mich wegdrehe, wird sich das Bild bestimmt ändern.

Der nächste Raum gehört Horst Antes. Hier hängen mehrere Figuren von ihm, die mir in ihrer schlichten Farbigkeit und Körperlichkeit sehr gefallen. Die Google-Bildersuche spuckt, wenn ich richtig geguckt habe, kein einziges der Bilder aus, die hier hängen – sie haben weniger Konturen, sind flächiger, weniger konkret als das, was man sofort mit Antes’ Namen verbindet. Die FAZ schreibt sehr schön über den Herrn, und seit dem Artikel weiß ich auch, was ich mir nächste Woche beim Spontanbesuch in Berlin angucke.

Ich entdecke die seltsamen Kompositionen von Alfred Manessier und Julius Bissier für mich, vertiefe mich in Rubernos von Emil Schumacher und kann dann mal wieder vor Mama ein bisschen Wissen heucheln, indem ich ihr das Blau von Yves Klein zeige. An seinem Werk Victoire de Samothrace von 1962 kann ich auch gleichzeitig mein bisheriges Wissen über Denkmäler abrufen und ihr erklären, was die Siegesdame alles nicht ist.

Im gleichen Raum wie Klein stehen auch einige Werke von Niki de Saint Phalle, die man als Hannoveranerin natürlich durch die Nanas kennt. So gerne ich diese Skulpturen mag – sonst kann ich mit ihrem Werk eher weniger anfangen. Auch wenn ich ihr Selbstporträt mit den Haaren aus Kaffeebohnen durchaus charmant fand. Neben de Saint Phalle ist hier aber auch einiges von Dieter Roth zu bewundern, den ich persönlich lieber mag. An seiner Ersten Kubistischen Geige von 1984/1988 kann ich Mama ein bisschen was über den Kubismus erzählen, kriege den Bogen (Bogen, haha) zum Roth’schen Werk aber nur durch die Farbigkeit hin. Im Geigenkasten liegt ein Foto eines kubistischen Bilds (ich habe mir nicht gemerkt, welches), das genau in den Farben gestaltet ist, mit denen Roth seine Geige verziert.

Nach ein bisschen Pop-Art von Warhol (Flash), Lichtenstein (Two Paintings/Alien) und Lindner (New York City III) kommen dann die ersten Installationen, unter anderem von Nauman und Franz Erhard Walther, dessen Mit sieben Stellen und Mantel mich sehr beeindruckt hat. Es besteht aus einem beigefarbenen Stoffhintergrund, auf dem sich weitere Stoffbahnen befinden. Ein Mantel aus dem gleichen Stoff deutet eine durchschnittliche menschliche Größe an. Orangefarbene, grüne, braune und rote Stoffteile umschließen Raumteile oder zeigen Verläufe von Raum auf, zwischen ihnen kann man imaginäre Linien ziehen und sich das Werk so erschließen. 18 Zeichnungen verdeutlichen die Gedankengänge, die hinter dem massiven Werk stecken, aber sie sind keine Gebrauchsanweisung. Es ist ein Spiel mit Größe und Körperlichkeit, mit Maßstäben und Erwartungen. (Oder was ganz anderes, aber das war’s für mich.) Wie ich schon bei Beuys im Lenbachhaus in München überrascht gemerkt habe: Die moderne Kunst hat sich an mich rangewanzt, und ich kann soviele Raffael-Bücher kaufen wie ich will, ich kann mich nicht mehr wehren.

Aber ein bisschen in die Vergangenheit darf ich schon noch schweifen, denn im Sprengelmuseum hängen auch die Neue Sachlichkeit, ein bisschen Kubismus und Futurismus und direkt dahinter (oder davor, je nachdem von wo man kommt) meine Lieblinge von der Brücke.

In der Neuen Sachlichkeit sind mir erstmals Grethe Jürgens und Ernst Thoms aufgefallen. Zwei Räume weiter konnte ich dann wirklich mal was erklären anstatt nur rumzumeinen, denn dort hängen ein paar Picassos gegenüber von Boccionis A strada entra nella casa von 1911. Das ist dort wirklich bilderbuchmäßig und man kann prima die Unterschiede dieser beiden Stilrichtungen erörtern und warum Bilder, die zur gleichen Zeit entstanden sind, so unterschiedlich aussehen.

Noch ein Raum für Picasso, durch den ich zugegebenermaßen etwas durchgesprintet bin, denn ich konnte langsam nichts mehr sehen. Den armen Emil Nolde habe ich auch nur gestreift, aber dafür konnte ich dann etwas länger bei meinem Liebling Kirchner rumstehen, der sich seinen Raum natürlich mit den Brücke-Kumpels Müller und Schmidt-Rottluff teilt, genau wie in der Hamburger Kunsthalle. Lustigerweise gefielen mir hier die Schmidt-Rottluffs besser als in Hamburg, während Herr Kirchner mich etwas underwhelmte. Aber im nächsten Raum konnte ich mich zum Ausgleich über diverse von Jawlenskys freuen. Mama freute sich über Macke und Marc (mal wieder Pferde. Ich kann diese Pferde nicht mehr sehen), während ich endlich die Klappe halten konnte.

Ich habe mich darüber gefreut, dass ich doch schon mehr wusste als ich dachte, aber ich habe auch gemerkt, dass ich lieber alleine in Museen rumlaufe. Kein schlechtes Gewissen, weil man statt drei Minuten fünfzehn vor einem Werk stehenbleiben will (die Zeit hätte ich mir gerne bei Riopelle und Walther gegönnt), und auch keins, weil man an manchen Bildern einfach vorbeirennt. Wenn ich alleine gewesen wäre, wäre ich kurz zum Kaffeetrinken rausgegangen, hätte meine Füße in den Maschsee gehalten und dann doch eine zweite Runde gedreht bzw. mir den Rest angeguckt, den wir dieses Mal nicht geschafft haben. So ist mir erst beim Rausgehen aufgefallen, dass ich den Merzbau gar nicht gesehen habe, in den ich als Kind sogar noch reinklettern durfte. Ich habe dieses Mal auch gemerkt, dass ich die Sache ernster nehme als sonst. Wo ich sonst einfach nur gucke, um meine innere Bildersammlung laaaangsam zu ergänzen, habe ich dieses Mal an vielen Bildern versucht, als angehende Kunsthistorikerin draufzugucken – also so, als ob ich ein Referat halten oder eine Hausarbeit schreiben muss. Ich erzähle mir in allen Einzelheiten, was ich sehe, welche Farben, in welcher Anordnung, in welchem Auftrag, wo sehe ich Konturen, wo erschließen sich mir Zusammenhänge, welche inneren Dynamiken spüre ich bzw. wo kann ich sie am Bild nachvollziehen, so dass aus ihnen mehr wird als nur ein diffuses Gefühl. Ich versuche, ein Bild zu erkennen und es nicht einfach so hinzunehmen. Und das kostet halt Zeit, und es ist ein bisschen anstrengend. Aber – natürlich – auch ganz großartig.

PS: Dieser Eintrag ist so bilderarm, weil man ü-ber-haupt nicht fotografieren durfte. Direkt hinter der Kasse hängt schon ein Riesenschild, das von Copyright redet und dass man in die Hölle kommt, wenn. Also habe ich, wie immer, nur die Schilder fotografiert, auf denen die KünstlerInnennamen und die Werkdaten stehen, weil ich zu faul bin, mir das aufzuschreiben. Aber: Selbst das darf man nicht. Als ich darüber quengelig twitterte, kam von @ishtar noch die Krönung: „Geht noch besser. Im Haus von Georgia O’Keeffe ist auch Zeichnen und handschriftliche Notizen machen untersagt.“ Pffft.

Kunst gucken: Hamburger Kunsthalle (Klassische Moderne)

Der erste Besuch in der Kunsthalle führte mich ins 19. Jahrhundert, der nächste ins Mittelalter bzw. die frühe Neuzeit, und Dienstag war endlich mal die klassische Moderne dran. Der Link zum 19. Jahrhundert vom März 2012 ist mir schon fast peinlich in seiner Unkenntnis, aber ich mag den Satz „Bei solchen Bildern frage ich mich immer, warum sie im Museum hängen und wünsche mir ein Kunstgeschichtsstudium, um sie zu würdigen.“ Ha!

Die letzten beiden Male habe ich gar nicht um Ermäßigung beim Eintritt gebettelt, denn die Website behauptet, ich kriege eh keine, aber dieses Mal dachte ich, da stelle mer uns janz dumm und fragen. Ich geriet an eine Dame an der Kasse, die eine weitere Dame fragte, in einem Berg Papiere blätterte, „Wie war das mit Leuten über 27, die Kunstgeschichte studieren, aber nicht in Hamburg?“ und die mir schließlich einfach eine ermäßigte Karte für 6 Euro anstatt für 12 verkaufte. Dankeschön. (Ich. Will. UMSONST. Ins. Museum!)

Das Putzige an der Kunsthalle: Man kommt nicht direkt zur klassischen Moderne, sondern muss dafür durch die Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Ist also quasi wie bei Ikea, wo man auch nicht direkt zu den Köttbullar kommt, sondern erst durch die Möbel muss.) Den Umweg nehme ich aber gerne, denn dort hängen die Drei Frauen in der Kirche von Wilhelm Leibl. Immer noch mein Lieblingsbild. Ihr müsst euch das bitte mal vor Ort angucken; keine Abbildung und schon gar nicht mein iPhone-Foto können die Feinheit wiedergeben, mit der das Bild gestaltet wurde.


Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche (1881)

Nach einem Jahr Studium ist das 19. Jahrhundert nicht mehr ganz so reizvoll für mich wie vorher, aber es steht immer noch ziemlich weit oben auf der Liste – wobei ich in jeder Vorlesung und in jedem Seminar meine Vorlieben neu justiere. Nach dem ersten Semester fand ich auf einmal die Romanik toll, die mir vorher völlig verschlossen war, und die Gotik hatte sich einen Platz im Kopf erobert; den im Herzen hatte sie schon. Im zweiten Semester vertiefte ich meine Faszination mit der christlichen Ikonografie der Niederländer im 15. Jahrhundert, auf die ich durch mein Memling-Referat im ersten Semester aufmerksam gemacht wurde. Außerdem bekam ich im absoluten Schnelldurchlauf Kunst von 1500 bis 2000 präsentiert, und ich beschäftigte mich erstmals ernsthaft mit Skulpturen, mit denen ich vorher auch eher nur gefühlt was anfangen konnte, aber nie wusste, was ich eigentlich mag und warum.

Im Skulpturen-Seminar besprachen wir auch Bildwerke, die mit der Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert was zu tun hatten; wir hörten allein vier Referate zu Picasso, unter anderem eins zu den Demoiselles d’Avignon von 1907 (das Bild gilt als der Urknall der Moderne, könnt ihr euch für Partysmalltalk mal merken) und ein weiteres zu seinen Absinthgläsern, an denen toll ist, dass sie von Picasso erstellte Plastik und bereits vorhandenes Material kombinieren (den Löffel), was aus der Plastik eine erste Assemblage macht (auch das ein hervorragender Smalltalkbegriff). Kurz gesagt: Ich fühlte mich etwas besser gewappnet für die Neuzeit als bei den letzten Besuchen und begann mit dem Raum, der mein neuer Lieblingsplatz in Hamburg ist: ein Raum mit Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck und Bildern von Paula Modersohn-Becker.

Lehmbrucks Gestürzter war für mich der Höhepunkt der El-Greco-Ausstellung in Düsseldorf, die ich sonst eher so meh fand, und während der Beschäftigung mit Alexander Archipenko bin ich ihm immer wieder begegnet. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, ihn in Hamburg wiederzusehen.


Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers (1918)

Dieser eigentümlichen Stimmung, in die mich Lehmbrucks Skulpturen in ihrer Fragilität und Einsamkeit versetzen, kann ich mich nie entziehen, und ich finde die Zusammenstellung mit den Bildern von Modersohn-Becker sehr passend. Sie zeigen ausnahmslos Menschen, so dass der ganze Raum die Möglichkeit bietet, mit verschiedenen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten, die für mich aber alle irgendwie zusammengehörten. Wundervoll. Und melancholisch. Melancholisch-wundervoll.

An dem Bild Alte Moorbäuerin fand ich folgende Information: „Erworben 1920. Beschlagnahmung durch die Kommission für „entartete“ Kunst 1937. Erneut erworben 1951“. Wenn ich richtig geguckt habe, war das das einzige Bild, an dem der Hinweis auf die „entartete“ Kunst stand; umso wichtiger finde ich ihn.

Im nächsten Raum versank ich in drei Bildern von Munch, unter anderem in der Madonna, und entdeckte den mir vorher unbekannten Georg Minne. Bei Munch habe ich gemerkt, dass ich inzwischen anders gucke als vor einem Jahr. Ich lasse zwar immer noch zunächst im Raum den Blick schweifen und konzentriere mich dann auf die Bilder, die mich spontan faszinieren, aber bei denen versuche ich sofort zu ergründen, was sie aus kunsthistorischer Sicht auszeichnet. Ich überlege nicht mehr, was mir an ihnen gefällt – die Farben, die Komposition, das Motiv –, sondern ich rufe meine bisher im Kopf gesammelten Bilder ab und ordne das vor mir hängende Werk ein. Oder versuche es zumindest, was nach zwei Semestern natürlich noch eher ein Rumstochern im Nebel ist, aber der wird mit jedem Buch, jedem Bild und jedem Kurs lichter. So erstaunte mich bei der Madonna die rote Gloriole und das schwarze Haar; mir fiel bei Minnes Drei Heiligen Frauen (ich hoffe, ich habe mir den Titel richtig gemerkt) auf, dass sie keine Gesichter haben, was ihnen ihre Menschlichkeit raubt, und ich überlegte bei einem Winterbild Munchs, welche Farbschicht wohl zuerst kam und ob das Absicht war, seine Signatur per Weiß einzuschneien.

Im nächsten Raum warteten Picasso, Brancusi und Gris auf mich, und hier hatte ich ständig die oben erwähnten Demoiselles sowie Picassos Gitarrenbilder im Hinterkopf: Sehe ich Entwicklungen oder Abstufungen in der Abstraktion? Ich fühlte mich in jeder Minute um so viel reicher als noch vor einem Jahr, weil ich mich den Werken anders nähern konnte – aber trotzdem meine übliche emotionale Rangehensweise noch nicht von Fakten verschüttet wurde.


Constantin Brancusi, Der Kuss (1907/08)

Der nächste große Raum war mein zweitliebster auf dem Rundgang: Hier versammelten sich unter anderem Feininger, Belling, Schlemmer, von Jawlensky und Klee. Ich twitterte schon den Satz, der mir erstmals beim Rundgang durchs Lenbachhaus in München bei meiner immer noch nicht verbloggten Privatführung rausrutschte: „Ach, das hängt HIER?“ Damals ging es um das Porträt von Alexander Sacharoff von Alexis von Jawlensky, das ich sehr mag und von dem ich wirklich keine Ahnung hatte, dass es sich in meiner Nachbarschaft befindet. In Hamburg ging es mir bei Bellings Skulptur 23 so; auch hier der Querverweis zum Lenbachhaus: Dort steht nämlich der Dreiklang, über den wir im Skulpturenseminar sprachen. In meinem Kopf klickt es seit einem Jahr dauernd.


Rudolf Belling, Skulptur 23 (1923)

Was mich in diesem Raum so fasziniert hat: Ich mag auf einmal Feiniger. Den fand ich bisher immer so ja ach okay, aber dieses Mal erwischte er mich total. Ich ahne, dass es was mit der Beschäftigung mit Architektur zu tun hat, denn auf einmal konnte ich sein Liniengewirr nachvollziehen, sah Strukturen statt Dekoration und war begeistert davon, wie er einen Domchor auf Grundformen runterbrechen konnte.

Bei Klee bin ich stets überfordert, aber bei Klee ist mir das egal. Den mag ich einfach. Alles von ihm. In Hamburg hängen unter anderem (?) der Goldfisch (oh so pretty) und die Revolution des Viadukts. Vor dem Bild stand ich gerade, als hinter mir eine Schulklasse sich vor Franz Marcs Affenfries aufbaute und rumquatschte. War mir aber egal, ich starrte auf dekonstruierte Viadukte und war glücklich.

Dann erlahmten meine Augen aber auch schon so langsam. Ich nahm noch alle Kirchners mit – auch auf ihn bin ich erst im Skulpturenkurs aufmerksam geworden –, ignorierte Nolde aber schon so ziemlich; der kam mir auf einmal viel zu kleinteilig-nervig vor, nachdem Kirchner doch so schön flächig malte. Der vorletzte Raum gehört Max Beckmann, und hier konnte man wunderbar die Entwicklung nachvollziehen. Man beginnt Anfang des Jahrhunderts, wenn ich mir das richtig gemerkt habe, bestaunt ein hellfarbiges Selbstporträt, ahnt seinen Lebenslauf und den des Jahrhunderts anhand der sich ändernden Bilder und Skulpturen und endet bei dunklen, zerfahrenen Bildern, die kurz vor seinem Tod entstanden.

In den letzten Kabinetten entdeckte ich dann noch zwei Frauen, von denen ich noch nie gehört hatte. (Vielleicht sollte ich doch das blöde Blockseminar im nächsten Semester belegen, das sich nur mit Künstlerinnen beschäftigt. Ich hasse Blockseminare.) Die Damen heißen Anita Rée und Elfriede Lohse-Wächtler, und gerade den Wikipediaeintrag zur letzteren sollte man sich nicht gönnen, wenn man sowieso schon schlecht gelaunt ist. Eine kleine Lesebitte. Kann nicht schaden. Und geht mal wieder ins Museum. Kann auch nicht schaden.

Über Cézanne

„Bei Cézanne begann sich die Aufgabe der Malerei zu erweitern. Zu dem „biologischen“ Auftrag, etwas Sichtbares wiederzugeben, gesellte sich der neue geistige Auftrag, etwas überhaupt erst sichtbar zu machen. (…) Vermöge eines engen Zusammenwirkens von Auge und bildnerischer Intelligenz: „beim Malen gibt es zwei Dinge – das Auge und das Gehirn. Beide müssen sich gegenseitig unterstützen. Man muß an ihrer wechselseitigen Entwicklung arbeiten – am Auge mittels des optischen Studiums der Natur, am Gehirn mittels der logischen Entwicklung und Ordnung der künstlerischen Erlebnisse – sie schafft die Ausdrucksmittel.“ (…)

Cézanne verfügte sich in das Werk hinein. Er tat das mit einem ergreifenden Einsatz seines ganzen Menschentums. Von Anlage und Temperament ein ungestümer, ganz barocker Geist von einer erschreckend sinnlichen Wildheit, verfügte er sich unter die unerbittliche Disziplin seines Konstruierens; daraus kommt die zitternde Kraft seines Formgefüges. Er wob sein ganzes eigenes Sein dem Bildleib ein. Fortab sitzt das „Bild des Menschen“ im Bilde selbst, da hat er sich hineinverfügt, dort ist er aufzufinden. Die heute so beliebte Frage nach dem Menschenbild in der modernen Kunst, wenn man darunter das Erscheinungsbild, das Ikonographische versteht, zeugt von einem hilflosen Mißverstehen dieses Grundgedankens.“

Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, 6. durchges. Auflage, München 1979, S. 38/39.

Über Dinge und ihre Bedeutung

„256

Morgens kommt der Pfleger und fragt, was ich trinken möchte. Was ich trinken möchte? Ich sage: Kaffee. Ich sage immer Kaffee, Wasser steht ja auf dem Nachttisch. Abends trinke ich Tee.

257

Ich muß nur liegen. Ich muß nur liegen und ab und zu behaupten, ich hätte meine Temperatur gemessen. Jeden Morgen erfinde ich eine Zahl, ich bin längst viel zu faul, mir das Fieberthermometer tatsächlich in die Achselhöhle zu klemmen. Und ich denke, eigentlich, eigentlich bin ich gern hier. Das Krankenhaus befreit von vielen Dingen, die sonst so ungeheuer wichtig scheinen.

Vielleicht bin ich schon zu lange hier.

258

Zwei oder drei Stunden starre ich die glasgraue Wasserflasche auf dem Nachttisch an. Ich mag ihre Silhouette, ich mag ihre Banderole aus Papier. Stolz sieht sie aus, die Flasche. Ich glaube, sie leuchtet.

Und ich merke, es ist gar nicht so schwer, die Dinge so lange anzuschauen, bis sie etwas ganz anderes bedeuten. Allerdings weiß ich nicht unbedingt, was.“

Wagner, David: Leben, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 271/272.

Über Rezeption

„,Schert sich die Masse nicht einen Dreck um Kunst, Dichtung, Stil? Sie braucht das alles gar nicht. Schafft ihr seichte Komödien, Abhandlungen über Gefängnisarbeit, über Arbeitersiedlungen und die augenblicklichen materiellen Interessen, meinetwegen. Es gibt diese permanente Verschwörung gegen das Authentische.‘
(G. Flaubert an (…) [Louise Colet], 20. Juni 1853)

,Aber eine Wahrheit scheint mir aus alledem doch hervorgegangen zu sein: daß wir nämlich keinerlei Bedarf an Gemeinem haben, am bloßen Zahlenelement von Mehrheiten, an Verabschiedung, an Ratifizierung; 1789 hat Königtum und Adel vernichtet, 1848 das Bürgertum, 1851 das Volk. Es gibt nichts mehr als einen pöbelhaften, schwachsinnigen Mob. Wir stecken alle gleich tief in derselben gemeinen Mittelmäßigkeit. Die soziale Gleichheit ist in geistige übergegangen. Man macht Bücher für Alle, Kunst für Alle, Wissenschaft für Alle, genau so, wie man Eisenbahnen baut und öffentliche Wärmehallen. Die Menschheit ist versessen darauf, moralisch zu sinken, und ich nehme es ihr übel, ihr anzugehören.‘
(An dies., 28.–29. September 1853.‘“

Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 22. Auflage, Frankfurt am Main 2012, Seite 355/356.

Über Distinktionsbedürfnisse

„Alles in allem wurde dem Konsumenten von Kunst vermutlich noch nie derart viel abverlangt wie heute, da er aufgerufen ist, den künstlerischen Prozeß zu re-produzieren, in dem der Künstler (unter Mithilfe des gesamten intellektuellen Feldes) den neuen Fetisch geschaffen hat. Vermutlich wurde ihm aber auch noch nie derart viel wieder zurückgegeben: Der naive Exhibitionismus des „ostentativen Konsums“, der Distinktion in der primitiven Zurschaustellung eines Luxus sucht, über den er nur mangelhaft gebietet, ist ein Nichts gegenüber der einzigartigen Fähigkeit des „reinen Blicks“, dieser gleichsam schöpferischen Macht, die kraft radikaler, weil scheinbar den „Personen“ selbst immanenter Differenzen vom Gemeinen scheidet.

Ein Blick in Ortega y Gassets Werk läßt zur Genüge ermessen, in welchem Unfang die charismatische Begabungsideologie Bekräftigung zieht aus der modernen Kunst, die in seinen Augen „wesentlich volksfremd; mehr als das, … volksfeindlich (ist)“ sowie aus dem „merkwürdigen Effekt“, den diese hervorruft, indem sie das Publikum, die Masse, in zwei „gegensätzliche Gruppen“, in zwei „Kasten“ trennt: „die verstehen“ und „die nicht verstehen“. „Das schließt ein“, so fährt unser Autor fort, „daß die einen ein Aufnahmeorgan besitzen, das den anderen offenbar versagt ist; daß es sich um zwei Varietäten der Spezies Mensch handelt. Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit“. Und die Irritation, die sie bei der Masse hervorruft, die „nicht fähig ist, das Sakrament der Kunst zu empfangen“, schreibt er der Demütigung zu und dem „trübe(n) Bewußtsein von Unterlegenheit“, das diese „Kunst der Bevorrechtigten, des Nervenadels, der Instinktaristokratie“ bewirkt. „Anderthalb Jahrhundert lang hat das Volk behauptet, es sei die ganze Gesellschaft. Strawinskis Musik und Pirandellos Drama kommt eine soziologische Wirkungskraft zu, die es zwiengt, sich als das zu erkennen, was es ist, als „nichts als Volk“, als einen Baustein neben vielen im sozialen Verband, als träges Substrat des historischen Prozesses, als eine Nebensache im Kosmos des Geistes. Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen und ihre Mission begreifen: wenig sein und gegen viele kämpfen.“(1)

Und als überwältigender Beweis, daß die selbstlegitimatorische Einbildungskraft der happy few keine Grenzen kennt, sei auch noch Susanne Langer zitiert, die nach einhelliger Meinung als eine der „world most influential philosophers“ angesehen werden darf: „Früher war den Massen der Zugang zur Kunst verwehrt; Musik, Malerei, ja selbst Bücher waren ausschließlich den Reichen vorbehaltene Vergnügen. Man konnte davon ausgehen, daß die Armen, der „Vulgäre“, sich gleichermaßen daran ergötzen würden, wäre ihnen nur erst die Möglichkeit zu solchem Genuß gegeben. Heute jedoch, wo jeder lesen, Museen besuchen, ernste Musik zumindest im Radio hören kann, ist das Urteil der Massen darüber zu einer Realität geworden – aber auch sinnfällig, daß große Kunst kein unmittelbar sinnliches Vergnügen ist („a direct sensous pleasure“). Andernfalls müßte sie, wie Kuchen oder ein Cocktail, dem ungebildeten wie dem kultivierten Geschmack schmeicheln.“(2)

1) J. Ortega y Gasset, „Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst“, Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 230 ff.
2) Susanne K. Langer, „On Significance in Music“ in Aesthetics and the Arts, Herausgeber Lee A. Jacobus, New York, 1968, S. 182–212, hier 183.“

Bourdieu, Pierre: „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“, Frankfurt am Main, 1982, S. 60–62.