„Mit der Reduktion auf die Rumpfpartie gab der Bildhauer alle psychologischen Momente auf und entindividualisierte die menschliche Figur. Der Torso ist von aller Bedeutungshaftigkeit losgelöst, die auch, wenn nicht sogar besser, die dargestellte Wirklichkeit selbst oder deren Darstellung in einem anderen Medium, besonders durch Sprache, vermitteln könnte. Als Torso erzählt die Plastik keine Geschichten mehr, ihr „Inhalt“ ist ihre plastische Durchbildung, ihr „modelé“, allein in der Formung des plastischen Materials für den Rezipienten erfahrbar.
Neu war am Ende des vorigen [, des 19.,] Jahrhunderts nicht der Torso schlechthin, denn seit Jahrhunderten gehörte der geschichtliche Torso – die Plastik, die durch verschiedene Einflüsse von Mensch und Natur im Laufe der Zeit einen Teil ihrer Abbildfunktion verloren hatte – zur gängigen Erfahrung von Künstlern und Publikum; neu war aber, daß ein Bildhauer eine Darstellung des menschlichen Körpers ohne Kopf und Gliedmaßen zum vollendeten, selbständigen Kunstwerk erklärte und sie nicht als Bozetto oder Vorstudie verstand, die vom Publikum als Kunstwerk deshalb akzeptiert werden konnte, weil sie eine vollständigere Darstellung versprach.“
Schnell, Werner: Zwischen Abbild und „Realität“ – auf dem Weg zur Plastik ohne mimetische Funktion, in: Kat. Ausst. Skulptur. Ausstellung in Münster, Katalog I: Die Entwicklung der abstrakten Skulptur im 20. Jahrhundert und die autonome Skulptur der Gegenwart, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte 1977, Münster 1977, S. 12.