German Sales 1930–1945. Art Works, Art Markets, and Cultural Policy

Meine letzte Hausarbeit im Wintersemester 2013/14 war die aus dem Provenienzkurs in Kunstgeschichte. Ich erwähnte es im Blog bereits mehrfach: In der ersten Semesterwoche lag ich krank im Bett, weswegen ich in der zweiten Woche nur noch die Referatsthemen übernehmen konnte, die von der ersten Sitzung übriggeblieben waren. Das hat sich manchmal als Glückstreffer herausgestellt – hier war es mehr so mittel. Mein Thema war nämlich eine Datenbank, in der sich digitale Auktionskataloge aus den Jahren 1930 bis 1945 befinden. Darüber konnte ich zwar hübsch was erzählen und vor allem am Rechner zeigen, wie man die Datenbank benutzt und wie toll das ist, wenn man die daraus gewonnenen Daten mit anderen Datenbanken verknüpft, aber für eine Hausarbeit mit 15.000 Zeichen fand ich das Thema doch recht undankbar und spröde. Wenn ich schon zehn Seiten schreibe, will ich dabei auch was lernen. (Und Spaß haben.)

Also habe ich mich an weitere Referatsthemen erinnert: zum einen die Gesetzgebung, die spezielle für die jüdische Bevölkerung ersonnen wurde und zum anderen der Kunstmarkt im „Dritten Reich“. Über beide Themen kann man ganze Dissertationen schreiben; ich habe sie auf wenige Seiten runtergebrochen, um die Datenbank und ihre Bedeutung historisch einordnen zu können. Das scheint das gut geklappt zu haben: Ich habe eben die Note für die Hausarbeit in unserem fancy System entdeckt, in dem alle Noten rumstehen, und es ist eine schöne 1,3 geworden. Enjoy.

Über den weiblichen Akt

„Der so genannte „klassische“ weibliche Akt wurde nicht vor der postklassischen Zeit in der griechischen Kunst geschaffen. Er wurde von dem Bildhauer Praxiteles im vierten Jahrhundert v. Chr. erfunden, dessen lebensgroße Statue der Aphrodite, aufgrund ihres antiken Standortes die Knidische Aphrodite genannt, uns nur durch römische Kopien bekannt ist. Diese Skulptur ist die Quelle einer großen Anzahl von Werken, die in der westlichen Kunstwelt Aphrodite oder Venus darstellen. Und sie wird nicht nur als der erste monumentale weibliche Akt häufig nachgebildet, sondern auch und zuvorderst, weil sie die Erste ist, die ihre Scham bedeckt. Dieser Gestus wird immer wieder aus Ausdruck von Bescheidenheit angesehen, den die Alten „pudica“ nannten. Trotz seiner Bezeichnung bedeutet der Gestus weit mehr als Bescheidenheit. Er wurde in unserer Kultur als „natürlich“ internalisiert, d.h. wir verbinden mit ihm nicht mehr die Geschichte von Furcht, die eine Frau ausdrückt, die ihre Scham vor einem gewalttätigen Angriff zu schützen sucht. Die Pose der „Pudica“ ist für uns zum Inbegriff von Ästhetik und Kunstfertigkeit geworden. Trotzdem, wenn wir die naturalistisch geformte Skulptur einer Frau betrachten, die nicht gesehen werden will, spüren wir ein Kribbeln, selbst wenn wir unbewusst reagieren. Der Gestus mit all seinen Konnotationen ist auch mehr als ein Bild von Furcht und Zurückweisung. Nur durch das Setzen der Hand einer Frau über ihre „Pubis“ bewirkt Praxiteles – und mit ihm alle anderen, die dieses Mittel benutzt haben – ein Gefühl von Begehren im Betrachter und konstruiert die Reaktion eines Voyeurs. Sie wird in allen Betrachtern hervorgerufen, in Männern und Frauen, Hetero- und Homosexuellen. Dennoch sind es eindeutig männliche Heterosexuelle, die aufgefordert werden, ihr Begehren in sozial sanktionierte Handlung umzusetzen. Diese Handlung, die nicht mit privatem sexuellen Verhalten verwechselt werden darf, ist eher der öffentlich zur Schau gestellte Genuss an einer völlig sexualisierten weiblichen Form. Als hohe Kultur ist dieser Genuss synonym mit dem Gefallen an einem Kunstwerk, das von einem weiblichen Akt repräsentiert wird; als niedere Kultur ist dieses Gefallen synonym mit lüsternen Bemerkungen, die Männergruppen auf der Straße an Frauen richten. Schließlich schaffen die hohen und die niederen Kulturen des Gefallens, die von der „Pudica“ geprägt sind, spezielle Gelegenheiten für das gemeinsame Erleben männlicher Sexualität ohne offene homosexuelle Anklänge. Der weibliche Akt ist der Ort und das öffentliche Zur-Schau-Stellen von heterosexuellem Begehren ist das Mittel für Rituale männlicher Zusammengehörigkeit.“

Salomon, Nanette: „Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden“, in: Zimmermann, Anja: Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung,* Berlin 2006, S. 37–52, hier S. 48/49.

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Kunst gucken: „Mondrian. Farbe“, Bucerius-Kunst-Forum Hamburg

Piet Mondrian (1872–1944) dient bei Quengelnden über abstrakte Kunst gerne als Beispiel für „kann ich auch“ oder „was solln das“. Genauer gesagt, sind es seine Kompositionen aus Linien und Farbflächen, die gerne für deppige Bemerkungen herhalten müssen. (Ich quengele lieber über dusselige Produktverpackungen, mag aber das Mondrian-Dress von Yves Saint Laurent sehr gerne.) Auch deswegen fand ich die Ausstellung Mondrian. Farbe im Bucerius-Kunst-Forum sehr gut, weil sie den Weg von Mondrians Landschaften im 19. Jahrhundert zu seinen Gitterbildern ganz einfach nachvollziehbar macht.

Mondrian-Ausstellung
Ausstellungsansicht „Mondrian. Farbe“, Foto: Ulrich Perrey.

In den ersten Räumen sehen wir eben diese Landschaften: Breite Pinselstriche und erdige, unverklärte Farbtöne werden langsam zu leicht abstrahierenden Flächen und Farben. Auch die Szenerie ändert sich fast unmerklich: Wo anfangs noch ein Hauch von Genremalerei zu spüren war, verzichtet Mondrian bald darauf, eine Geschichte erzählen zu wollen, eine Szene zu etablieren: Er schaut, malt, geht weiter. Es geht ihm scheinbar nicht mehr um die reine Abbildung, wenn auch durch seine Augen, sondern um einen flüchtigen Eindruck, der rasch festgehalten werden soll. Licht, Schatten, Nebel, Stimmungen werden wichtiger als das Motiv selber. Die Striche werden flächiger, die Szenerie abstrakter, aber dadurch auch – jedenfalls für mich – stimmungsvoller.

Ich gebe zu, ich bin (noch?) nicht der größte Fan von Landschaftsmalerei; vor Bildern mit Bäumen und Wolken und Seen stehe ich meist etwas ratlos. Das ist alles hübsch, und ich weiß auch um die Entwicklung von Fantasielandschaften in Bildern zu besonders schön angelegten echten, die gemalt wurden, weil sie eben so schön waren, bis hin zu Bildern im 19. Jahrhundert, wo das Zufällige in der Natur plötzlich Motiv war, aber irgendwas will da nicht zu mir sprechen. Ich gucke mir das an, finde es hübsch und habe es zwei Meter weiter wieder vergessen. Deswegen mag ich wahrscheinlich die Landschaften von van Gogh so gerne, weil sie nicht pur abbilden, sondern mir zeigen, was der Maler in ihnen gesehen hat – und das ist deutlich unvergesslicher. Mein Liebling ist der Blick auf Arles (1889), der praktischerweise in der Neuen Pinakothek hängt und vor Farbe, aber auch vor innerem Schmerz nur so strotzt. Das sieht man bei Mondrian nicht; in seinen Bildern spüre ich keine innere Spannung, die sich in Baum- und Himmelsdarstellungen ausdrückt, aber stattdessen ein intuitives Gefühl dafür, was gerade das Besondere in diesem Moment, an diesem Ort ist.

In den Nuller- und Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts begann Mondrian, seine Farbpalette zu erweitern: Aus den erdigen, weichen Tönen wurden kräftige Grundfarben, die seine Landschaften völlig veränderten. Das kann man hervorragend in der Ausstellung nachvollziehen, bei der man nicht mal einen Audioguide braucht. An den Wänden und an den Werken selbst stehen knappe, sehr informative Texte, die einem das nötige kunsthistorische Rüstzeug mitgeben. Und selbst wenn man sie nicht durchliest – die Hängung erklärt es genauso nachdrücklich.

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Piet Mondrian: „Zeeuws(ch)e Kerktoren (Kirchturm in Zeeland)“, 1911,
Öl auf Leinwand, 114 x 75 cm, Gemeentemuseum Den Haag.
© 2014 Mondrian/Holtzman Trust
c/o HCR International USA

Mein Liebling war Die rote Mühle (1911) und das obenstehende Werk, der Kirchturm in Zeeland (1911). Bei der Mühle mochte ich den Bildausschnitt; das Motiv muss nicht mehr ganz gezeigt werden, um zu wirken, gerade die Beschneidung macht es so spannend. Und beim Kirchturm gefiel mir die Farbe, die natürlich am Bildschirm nicht annähernd so wirken kann wie im Original. Das ganze Gebäude scheint nur noch aus Farbflächen zu bestehen, die Dreidimensionalität wird nur noch angedeutet; das Objekt ist nicht mehr wichtig, die Farbe ist es. Sonnenuntergangsrosa trifft auf Dämmerungsviolett, das Licht, das durch das Blätterdach fällt, schafft grüne und blaue Flächen, die Fenster der Kirche leuchten türkis, der Boden versinkt schon fast in Nachtblau. Vor dem Bild stand ich mindestens zehn Minuten und wollte es am liebsten mitnehmen.

Schließlich trennte ich mich doch und ging in den ersten Stock, wo genau die Bilder hängen, bei denen man so schön „kann ich auch“ sagen kann (wenn man doof ist). Die chronologische Hängung macht es auch hier ganz einfach, die Entwicklung nachzuvollziehen: von der Komposition im Oval mit Farbfeldern (1914), die noch die Pastelltöne der Landschaften mitzunehmen scheint über die Komposition mit Gitter 8 (1919, ebenfalls im letzten Link zu sehen), die erstmals in der Kunstgeschichte konsequent ein Raster nutzt, um das Bild zu unterteilen – bis hin zu den Kompositionen aus Linien und den drei Grundfarben. Anfangs nutzte Mondrian noch Schattierungen von Grau; es lässt erahnen, dass man Farben modellieren kann, um aus ihnen Körper entstehen zu lassen. Zum Schluss verzichtet Mondrian auch darauf – er konzentriert sich auf die Grundfarben, Weiß und Schwarz. Die einzige „Körperlichkeit“, die noch zu ahnen ist, sind die verschiedenen Richtungen, in die der Pinselstrich geht, der so eine kleine Dynamik in der Strenge erzeugt.

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Piet Mondrian: „Komposition mit Blau und Gelb“, 1932, Öl auf Leinwand, 45,4 x 45,4 cm, Denver Art Museum.
© 2014 Mondrian/Holtzman Trust
c/o HCR International USA

Leider nicht in der Pressedatenbank: die Komposition mit Linien und Farben III (1937), die ich persönlich am liebsten mochte. Auch vor diesem Bild stand ich gefühlt ewig rum, während hinter mir die BesucherInnen kurz anhielten, guckten, innerlicher Monolog wahrscheinlich: „Linien, blaues Rechteck, alles klar, hab ich, weiter“ und zum nächsten Bild gingen. Klar kann man so auf abstrakte Bilder gucken und ich gebe zu, auf die meisten neuen Richter-Bilder gucke ich inzwischen so. (Mein derzeitiges Lieblingsspiel in jedem zeitgenössischen Museum: Spot the Gerhard Richter. Funktioniert immer. Kurz den Blick schweifen lassen, ah, da hinten hängt er, alles klar, hab ich, weiter.) Man kann aber eben auch gefühlt ewig davor stehen. Mir ist bei diesem Bild zum ersten Mal aufgefallen, dass ich abstrakte Bilder genauso angucken kann wie nicht-abstrakte. Bei einem Raffael gucke ich immer nach der Feinheit des Heiligenscheins, nach den Augen und Lippen. Bei van der Weyden achte ich auf Hautgestaltung, Handhaltung, Faltenwurf der Kleidung. Bei einem van Gogh vertiefe ich mich in Pinselstrich und Farbauftrag. Und bei diesem Mondrian war ich damit beschäftigt, die Linienstärke zu betrachten, die nicht überall gleich ist. Ich habe geschaut, ob alle Linien bis an den Bildrand gehen (gehen sie nicht). Wie dicht sie aneinander liegen bzw. wie weit auseinander. Wo kreuzen sich Linien, wo stoßen sie nur aufeinander? Das Bild hat mir durch die intensive Betrachtung die gleiche innere Ruhe bzw. Transzendenz vermittelt wie die angesprochenen Raffaels und van der Weydens, vor denen ich ähnlich lange stehe und mich schlicht in ihnen und ihren Details verliere. Das habe ich selten vor einem abstrakten Gemälde, und daher war ich freudig überrascht, als ich entdeckte, dass das auch möglich ist.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 11. Mai, ist täglich von 11 bis 19 Uhr (Donnerstags bis 21 Uhr) geöffnet und kostet 8 Euro Eintritt (ermäßigt 5, für Kunstgeschichtsstudis und alle unter 18 frei). Auch den Katalog kann ich empfehlen; die Bilder sind nicht ganz so toll, wie ich sie gerne hätte, aber die Texte fand ich sehr aufschlussreich und lesenswert. Den Audioguide kann man sich übrigens schon vor dem Besuch runterladen.

Rez: „Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel“

Ich hatte am Wochenende schon auf Twitter auf den Aufsatz Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel? Über den Einsatz digitaler Methoden in den Bild- und Objektwissenschaften von Ruth Reiche, die auch twittert, und Celia Krause hingewiesen. Da ich aber glaube, dass der Hinweis alleine dem wie ich finde spannenden Text nicht gerecht wird, meine ich jetzt noch ein bisschen rum. Das wird keine wissenschaftliche Auseinandersetzung (dann dürfte ich auch nicht zur Wikipedia linken), sondern mal wieder ein Zusammenführen von Dingen, über die ich unter anderem im bisherigen Studium gestolpert bin. Ihr guckt mir also quasi beim Denken zu. Theoretisch könnte ich über jeden Text, den ich für die Uni lese, einen derartigen Blogbeitrag schreiben, denn für mich ist immer noch alles neu und toll und aufregend, und ich freue mich bei jedem Text über Wissensinseln, die mir bekannt vorkommen und an denen ich andocken kann.

Krause und Reiche wollen mit ihrem Aufsatz „die mit Bildern arbeitenden Wissenschaften in der Landschaft der Digital Humanities verorten“, indem sie „aktuelle Potentiale der Bildverarbeitung ausloten“ und „die Arbeit mit digitalen Bilddaten ansprechen“ (1). Sie beginnen mit einem Vergleich zwischen Text- und Bildwissenschaften. In Texten ließen sich digitale Hilfsmittel besser einsetzen, da Texte „nach standardisierten Regeln erfasst und ausgezeichnet“ (2) sind. Bilder und Objekte wie Statuen hingegen folgten keinen Mustern und seien daher schwerer auszuwerten.

Aber wieso müssen Bilder überhaupt ausgewertet werden? „In Analogie zum Begriff des linguistic turn forderte man damals die Hinwendung zu einer Bildwissenschaft, die sich an den praktizierten Methoden und Fragestellungen der allgemeinen Sprachwissenschaft orientieren und auch interdisziplinäre Ansätze verfolgen sollte. Die Funktionen von Bildern sollten sich nicht darin erschöpfen, in ihnen eine bloße Abbildung der Wirklichkeit oder eine dem Text untergeordnete Illustration zu sehen.“ (3) Auf den linguistic turn folgte der iconic turn, bei dem Bildern ein ähnliches „semantisches System“ (4) wie Worten zugrunde gelegt wurde.

Auf den iconic turn bin ich bei meinem Referat über Felix Thürlemanns Text Nicolas Poussin – „Die Mannalese“. Staunen als Leidenschaft des Sehens gestoßen, an dem ich fast verzeifelt wäre. Thürlemann nutzt einen semiotischen Ansatz für das Bildverständnis – im Gegensatz zu etwa einem soziologischen oder feministischen Ansatz. Semiotik ist allerdings für mich ein Buch mit siebenhundert Siegeln und ihre für mich schwer nachvollziehbaren Erkenntnisse auf ein Bild anzuwenden bzw. überhaupt den Text zu verstehen, hat mich ein paar konzentrierte (aber natürlich lohnende) Nachmittage in der Bibliothek gekostet. (Hier steht eine kürzere Fassung des Textes, in dem Thürlemann auf das titelgebende „Staunen“ eingeht, das aber nicht semiotisch begründet. DEN TEXT hätte ich eher verstanden.) Thürlemann entschlüsselt das Bild aufgrund dreier Erzählebenen, die mit der Figurengruppe am linken Bildrand beginnt: die Caritas Romana, in der eine junge Frau nicht ihr Kind stillt, sondern eine ältere Person, um sie vor dem Hungertod zu retten. Diese Gruppe ist quasi die Anleitung, wie das ganze Bild der Mannalese zu verstehen ist: Gott rettet die Israeliten vor dem Hungertod, indem er Manna regnen lässt. Die dritte Erzählebene ist übergeordnet: Die Mannalese weist auf das Wunder der Eucharistie hin, in der wir als Gläubige ebenfalls durch Nahrung (Abendmahl) gerettet werden. Wir beginnen also mit einem wunderbaren Ereignis (Caritas Romana, eine antike Darstellung), erkennen das Wunder (Mannaregen, Altes Testament) und verstehen schließlich das Mysterium (Eucharistie, Neues Testament). Und wenn sich das in Kurzfassung schon kompliziert anhört, dann lest mal den gesamten Text.

Krause und Reiche weisen darauf hin, dass in der Bildwissenschaft meist das Abbild eines Kunstwerks anstatt das Werk selbst die Grundlage für eine Beschäftigung mit ihm ist (genau wie hier der Link zur Mannalese steht anstatt eine Anleitung zum schnellen Beamen in den Louvre, um das Bild im Original zu sehen). Sie erwähnen Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (♥), der bereits vor 80 Jahren darauf hingewiesen hat, dass einem Abbild stets die Aura des Originals fehle. Digitale Abbilder von Kunstwerken hätten dafür aber andere Vorteile: Sie zerlegten das Ausgangsmaterial in Daten, die mit Metainformationen angereichert werden können. Das heißt, diese Daten können nicht nur betrachtet, sondern weiterverarbeitet und ausgewertet werden. Als positives Beispiel eines digitalen Abbilds verweisen die Autorinnen zum Beispiel auf Digitalisate von mittelalterlichen Handschriften, die man als Datei schonender für das brüchige Ausgangsmaterial und vor allem in ungleich größerer Auflösung betrachten kann. Ein weiteres Beispiel ist das Google Art Project, durch dessen hohe Auflösung und Erreichbarkeit per Mausklick dem Betrachter eine genussvolle Rezeptionserfahrung zur Verfügung stehe, die ihm im Museum nicht möglich wäre.

Um nun Objekte digital erfassbar zu machen, müssten sie, genau wie Wortdateien, in ihre Bestandteile zerlegt werden. Krause und Reiche erwähnen den Kabarettisten und Aktionskünstler Ursus Wehrli, der in seinen Büchern Kunst aufräumen genau das schon erledigt habe. Ich habe sehr über das Zitat zum Buch „Klarheit schaffen, wo es am wenigsten Sinn macht“ gelacht.

Herrn Wehrli kenne ich aus einem anderen Zusammenhang, denn Kunst aufräumen (TED-Talk) ist natürlich viel zu clever als dass die Werbung nicht was daraus macht. Die Kampagne für Bisley-Büromöbel hat so ziemlich alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Sieht auch hübsch aus, ist aber gnadenlos geklaut.

Die Autorinnen belegen anhand von Kunst aufräumen und einem Baselitz-Porträt die Fehlbarkeit, aber gleichzeitig auch die Nützlichkeit von computererfassten Bilddaten (Abschnitte 18 bis 24 – die solltet ihr euch wirklich durchlesen, das ist sehr clever und nachvollziehbar. Und es gibt was zu Gucken). In Abschnitt 29 wird’s dann noch spannender, denn da werden die Werke von Mondrian und Rothko visualisiert. Krause und Reiche zitieren Lew Manowitsch, der „mit Hilfe von ImagePlot, einem vom Software Studies Lab entwickelten Macro für das frei verfügbare Bildanalyse-Tool ImageJ, die Entwicklung visueller Merkmale innerhalb eines Bilddatensets“ (5) darstellen kann. Wo man auf den ersten Blick glaubt, die beiden Maler würden sich stilistisch ähneln – was wir mal verneinen –, erkennt man beim genaueren Hinsehen eine zeitliche Abfolge, in der sich die Farbigkeit der Werke entwickelt. Ich fand es sehr spannend, eine künstlerische Entwicklung in einem Screenshot erkennen zu können.

In weiteren Abschnitten wird auf Data Driven Art eingegangen, eine für mich gerade sehr attraktive Kunstform. Das angesprochene Beispiel ist Jason Salavon und sein Werk MTV’s 10 Greatest Music Videos of All Time von 2001, das die Farbstimmung der Videos wiedergibt. Was ich faszinierend fand: Ohne ein einziges Bild zu erkennen, hat man die Videos sofort vor Augen.

Der Aufsatz gibt dann eine Übersicht über verschiede Anwendungsmöglichkeiten von digitalen Instrumenten, entweder zur „Erfassung und Erschließung“ oder zur „Analyse und Auswertung“ (6). Eines davon ist zum Beispiel die Emblematica Online, eine Kooperation zwischen der University of Illinois und der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Ein Emblem besteht aus einem Motto (Lemma), einem Bild (Icon) und einem Text (Epigramm), und als wir an der Uni über Embleme als Kunstrichtung sprachen, fiel mir mal wieder der Zusammenhang mit der Werbung ein, denn klassische Anzeigen funktionieren genauso: aussagekräftige Headline, starkes Bild, kurze Copy. Wir Werbefuzzis klauen echt alles.

Ein weiteres Beispiel: What Makes Paris Look Like Paris? In der zitierten Arbeit untersuchten Forscher, ob sich Städte anhand visueller Elemente erkennen lassen und nutzten dazu Bilder von Google Street View. Diese Arbeit wäre in Deutschland also nicht möglich gewesen. Keine Ahnung, ob Berlin wirklich wie Berlin aussieht, wenn alles verpixelt ist.

Mein Liebling: FACES – Faces, Art, and Computerized Evaluation Systems, ein Projekt, das Gesichter erfasst, um Muster in Bilddatenbanken zu finden. Logisch. Bereits im ersten Semester übermannte mich die Panik, niemals genug Bilder gesehen haben zu können, um wirklich Vergleiche anzustellen oder Verbindungen zu erkennen. Wie toll wäre es, ein Programm zu haben, das mal eben das ganze Mittelalter nach Ähnlichkeiten durchforstet? Wobei diese Ähnlichkeit gerade den gemalten Damen wieder zum Verhängnis werden könnte, denn die sollten damals – spätestens seit Botticelli – hauptsächlich hübsch sein (und daher sehen sie alle gleich belanglos aus – hey, ganz wie heute mit Photoshop). Eine Frau, die Ghirlandaios Bild eines Großvaters entspricht, wird man vermutlich deutlich schwerer finden, denn gerade in der Renaissance galt die irrwitze Annahme, dass ein guter Mensch auch so aussehe und böse Menschen daran zu erkennen seien, dass sie eben äußerlich nicht ganz so schnuckig sind. Manchmal glaube ich, diese Annahme hat sich bis heute ganz gut gehalten.

Den Schluss des Aufsatzes bildet ein Ausblick bzw. ein Katalog an Wünschen und Erwartungen an die digitale Kunstwissenschaft. Ich zitiere aus Abschnitt 51 und 52:

„Da die digitalen Bildwissenschaften aufgrund der hohen technischen Komplexität im Umgang mit Bilddaten momentan gegenüber den über schriftsprachliche Texte forschenden Wissenschaften noch im Rückstand stehen, sind Fragen nach der Übertragbarkeit digitaler Methoden und Verfahren von hohem Interesse. Zum einen ist danach zu fragen, welche Methoden und Verfahren, die bisher vornehmlich im Bereich der Philologien erarbeitet wurden, auf den Gegenstandsbereich der Kunst- und Objektwissenschaften übertragen werden können, zum anderen, wo die Grenzen dieser Übertragbarkeit liegen und disziplinspezifische Überlegungen geschehen müssen.

Bei der Etablierung der Fächer Digitale Kunstgeschichte und Digitale Archäologie wäre es aus unserer Sicht wünschenswert, wenn die jeweiligen Fachgemeinschaften zumindest in größeren Teilen ähnliche Wege beschreiten und sich zunächst auf ihre speziellen Eigenschaften als Bild-/Objektdisziplinen in Abgrenzung zu den Text-/Sprachdisziplinen besinnen würden. Auch ein Austausch mit der Bibliothekswissenschaft, bei der Fragen der Erschließbarkeit und Aufbereitung im Vordergrund stehen, sollte als ein Bestandteil digitaler Fächer erwogen werden.“

Und als Rausschmeißer der Rausschmeißer:

„Abschließend lässt sich konstatieren, dass im Einsatz digitaler Methoden starke Potentiale für die Bild- und Objektwissenschaften verborgen liegen. Mit ihrer Anwendung unternimmt man bereits einen ersten wichtigen Entwicklungsschritt in Richtung einer digitalen Wissenschaft. Eine transdisziplinäre digitale Bildwissenschaft in dem Sinne wird es unserer Einschätzung nach jedoch kaum geben, denn jede Fachgemeinschaft (Kunstgeschichte oder Archäologie) wird aller Voraussicht nach ihren eigenen Weg finden und computerunterstützte Forschung auf individuelle Fragestellungen hin ausrichten. Dem teils immer noch verbreiteten Vorurteil, dass sich aus digital vorliegenden Bildern keine nennenswerten Informationen über den Bildinhalt extrahieren lassen, sondern allein über händisch von Fachexperten erstellte Metadaten gearbeitet werden muss, kann entgegengesetzt werden, dass man relevante Metadaten heutzutage nicht nur mit Hilfe einer ›Crowd‹, sondern sogar aus den Bildinformationen selbst generieren kann. Ein digitales Bild lässt sich also nicht nur in einzelne Pixel zerlegen, sondern es können über eine Analyse der Anordnung bzw. Verteilung dieser Bildpunkte Informationen über den Bildinhalt gewonnen werden, was weit über die Feststellung, ein digitales Bild sei eine Ansammlung von Bildpunkten, hinausgeht. Wir können also die eingangs aufgeworfene Frage, ob ein (digitales) Bild mehr sagt als tausend Pixel, getrost mit einem ›Ja‹ beantworten.“ (7)

(1) Vgl. zu den ersten drei Zitaten Krause, Celia/Reiche, Ruth: „Ein Bild sagt mehr als tausend Pixel? Über den Einsatz digitaler Methoden in den Bild- und Objektwissenschaften“, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2013 (urn:nbn:de:bvb:355-kuge-354-6); http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/354/ (abgerufen am 10. Februar 2014), Abschnitt 2.
(2) Ebd., Abschnitt 3.
(3) Ebd., Abschnitt 4.
(4) Ebd.
(5) Ebd., Abschnitt 29.
(6) Ebd., Abschnitt 36.
(7) Ebd., Abschnitt 56.

In Defense of Art History

Against Playing the Short Game: In Defense of Art History

Der Artikel von Tina Rivers passt hervorragend zu dem ersten Lesetipp von gestern. Auch hier wird eine Lanze für die Kunstgeschichte gebrochen – und zwar aus einem interessanten Grund (Hervorhebungen von mir):

„[T]hough our world used to be dominated by the dissemination of text, our society is increasingly dominated by visual modes of communication. In the coming years, it’s likely that visual literacy will become a key skill, alongside textual literacy, for workers throughout our economy. This is why it’s important for President Obama to understand that art historians don’t simply teach the historical development of artistic styles; more critically, we teach people how to look at images. I don’t think he would make a public statement against teaching our children to read … so why should he implicitly ridicule teaching people how to read images, when images are now as important as text in the construction of our common culture?“

Ich bin im bisherigen Studium bereits mehrmals über die Diskussion Kunstgeschichte versus Visual Studies (Bildwissenschaften) gestoßen. Welche Art der Lehre ist die heute angemessene? Muss sich die Kunstgeschichte mehr mit digitalen Bildern, Werbung, Comics und anderen modernen Bildelementen befassen, was aber den Terminus „Geschichte“ ad absurdum führen würde? Einer meiner Profs meinte mal scherzhaft, alles nach 1980 würde er ignorieren, das sei noch keine Geschichte. Im Gegensatz dazu beschäftigen sich die Visual Studies mehr mit heutigen Symbolen und Zeichen, die uns umgeben, aber vernachlässigen sie nicht genau die lange Historie, die hinter ihnen steckt? Müssen sich die zwei Fächer ergänzen, sollten sie verschmelzen, sollten sie sich noch strikter trennen?

Die Frage nach der heutigen bildlichen Darstellung berührt unter anderem die Gender Studies, die es inzwischen natürlich auch in der Kunstgeschichte gibt (Linda Nochlin* und Griselda Pollock** sei dank). Wir haben im letzten Semester den Text What do „Bildwissenschaften“ want? von Sigrid Schade gelesen, die ziemlich erbost darüber ist, dass die Kunstgeschichte sich erst jetzt mit dem feministischen Blick auf Bilder befasst, denn genau das tun die Visual Studies und die Genderforschung seit über 30 Jahren. Zusätzlich beklagt sie, dass die Kunstgeschichte, die traditionell eine männliche Wissenschaft über männliche Kunstwerke ist, weiterhin Exklusionsstrategien nutze, indem sie Erkenntnisse der Genderforschung nachträglich als ihre eigenen ausgebe.

* Hier steht Nochlins grundlegender Aufsatz Why have there been no great women artists? von 1971. Ich zitiere aus dem Dictionary of Art Historians zu ihrer Person: „Instead of attempting to elevate minor women artists to a status of males artists of the period, the article focused on the “feminist gaze,” and the coded, gender-biased reception [of] major art works, then and today.“

** Hier (Link startet pdf-Download) findet sich das gekürzte Vorwort von Pollock zu ihrem Buch Vision and Difference: Feminism, Femininity and the Histories of Art.

Kunstgeschichte studieren/Selfies

How Art History Majors Power the U.S. Economy

Der Artikel ist schon etwas älter (2012), aber die Argumentation für das angeblich sinnlose, weil nicht-einträgliche Studium von Fächern wie Kunstgeschichte und Philosophie stimmt immer noch: Wenn alle nur noch BWL und Jura studieren, haben wir bald bergeweise arbeitslose BWlerInnen und JuristInnen. Deswegen sollte ruhig alle, die Lust dazu haben, Kunstgeschichte und Philosophie studieren. Das scheinen sowieso nicht allzu viele Menschen zu sein:

„According to the National Center for Education Statistics, humanities majors account for about 12 percent of recent graduates, and art history majors are so rare they’re lost in the noise. They account for less than 0.2 percent of working adults with college degrees, a number that is probably about right for recent graduates, too. Yet somehow art history has become the go-to example for people bemoaning the state of higher education.“ (…)

Contrary to what critics imagine, most Americans in fact go to college for what they believe to be “skill-based education.” A quarter of them study business, by far the most popular field, and 16 percent major in one of the so-called Stem (science, technology, engineering and math) fields. Throw in economics, and you have nearly half of all graduates studying the only subjects such contemptuous pundits recognize as respectable. (…)

The argument that public policy should herd students into Stem fields is as wrong-headed as the notion that industrial policy should drive investment into manufacturing or “green” industries. It’s just the old technocratic central planning impulse in a new guise. It misses the complexity and diversity of occupations in a modern economy, forgets the dispersed knowledge of aptitudes, preferences and job requirements that makes labor markets work, and ignores the profound uncertainty about what skills will be valuable not just next year but decades in the future.“

Im Artikel wird auch angesprochen, dass viele Studierende sich überlegen, was sie verdienen wollen, bevor sie sich für ein Studienfach entscheiden. Das klingt sinnvoll, aber wer sich nur daran orientiert, was später auf der Gehaltsabrechnung steht, hat wahrscheinlich deutlich weniger Spaß am Job als die Menschen, die zuerst ihren Neigungen folgen und dann der Kohle. In einem Text über Frauenbildung der letzten 200 Jahre bin ich über eine Stelle gestolpert, die immer noch in mir grummelt. Dort wurde aufgedröselt, welche Fächer eher von Männern und welche eher von Frauen belegt werden. Die Antwort: Männer studieren Fächer, die Prestige und ein höheres Einkommen erwarten lassen, Frauen das, auf das sie Lust haben. Was in den leidigen Diskussionen um die Gender Pay Gap ja immer gerne vorgebracht wird: Würden wir Mädels mal so was Sinnvolles wie Wirtschaftswissenschaften studieren anstatt französische Literatur, würden wir auch mehr Geld verdienen.

Wie wäre es, wenn wir das umdrehen? Anstatt den Jungs weiter einzureden, sie müssten irgendwas Geldwertes studieren, damit sie brav eine Familie ernähren können, die sie nie sehen, weil sie bis 22 Uhr im Büro sitzen – wäre es nicht viel toller, wenn wir dieses Prestigedenken auf den Müllhaufen der Soziologie werfen und uns alle nur noch mit Dingen beschäftigen, die uns interessieren? So wie wir schlauen Frauen das anscheinend schon tun, dabei aber natürlich unseren Marktwert böse ignorieren – den wir übrigens auch auf irgendeinen Müllhaufen werfen können, wenn wir schon dabei sind.

Ja, naiver Vorschlag, ich weiß. Ich wollte ihn aber wenigstens loswerden, damit es nicht wieder heißt, dem Feminismus sind die Männer egal.

Kunst auf Armlänge: Jerry Saltz über Selfies

Das Monopol-Magazin (das übrigens das erste war, das ich auf meinem geliebten iPad mini abonniert habe) schreibt sehr ausführlich über Selfies aus kunsthistorischer Sicht:

„Auf gewisse Weise orientieren sich diese Selfies am alten griechischen Theaterkonzept der Methexis – ein Partizipationsmodell, in dem der Sprecher das Publikum direkt anspricht, ein wenig wie wenn Filmkomiker direkt in die Kamera grimassieren.

Schließlich und faszinierenderweise wurde das Genre nicht von Künstlern erfunden – sondern von uns allen. Man könnte das Selfie gewissermaßen als Folklore verstehen, und als solche hat es schon jetzt die Sprache und das Lexikon der Fotografie erweitert. Selfies dokumentieren das moderne Leben, wobei sowohl Akademie wie auch Kuratoren sie bisher weitgehend ignorieren. Das wird sich allerdings ändern: In hundert Jahren steht uns durch die gewaltige Menge von Selfies ein unglaubliches Archiv der kleinen Details des Alltags zur Verfügung. Man muss sich nur mal vorstellen, was es alles zu sehen gäbe, wenn man Millionen Selfies aus den Straßen des antiken Roms hätte. (…)

Im Gegensatz zur traditionellen Porträtkunst brauchen Selfies keinen hochtrabenden Überbau. Sie gehen einen anderen Weg – oder gar keinen. Theoretiker wie Susan Sontag und Roland Barthes erkannten in allen Fotographien Zeichen von Melancholie und Tod. Aber Selfies sind nicht für die Ewigkeit gedacht. Sie erinnern an den Hund aus dem Cartoon, der auf die Frage nach der Uhrzeit immer „Now! Now! Now“ kläfft.

Adererseits lassen sich durchaus Bausteine einer kunsthistorischen und visuellen DNA finden, aus denen die Strukturen und Wurzeln der Selfies entstanden sind. So gibt es ja zum Beispiel auch alte analoge Fotos, auf denen Leute Kameras vor sich hinhalten, um sich selbst zu fotografieren. (Beliebt war das Motiv zum Beispiel, um das letzte Bild einer Filmrolle zu verknipsen, damit man den Film zum Entwickeln geben konnte.) Aber als Genre blieb diese Art des Porträts undefiniert, verschwommen und uncodiert. (…)

Ich bin bei weitem nicht der Erste, der das Selfie für eine signifikante Gattung hält. Schon 2010 schrieb der Künstler und Kritiker David Colman in der „New York Times“, das Selfie sei mittlerweile „so allgemein verbreitet, dass es die Fotografie als solche verändert.“ Colman zitierte dabei seinerseits den Kunsthistoriker Geoffrey Batchen, für den sich im Selfie zeige, „wie sich die Fotografie von einem Medium der Erinnerung zu einem Kommunikationsmittel wandelt”. Mir wiederum gefällt am Selfie vor allem, dass wir nach dem Fotografieren noch etwas anderes damit anfangen: wir veröffentlichen es. Was wiederum ebenfalls so etwas Ähnliches wie Kunst ist.“

Zur Selbstporträt des Parmigianino, das dem Artikel voransteht, haben wir in Kunstgeschichte noch gelernt, dass das durchaus Absicht sein könnte, dass die Hand des Künstlers so deutlich sichtbar ist. Im 16. Jahrhundert nahmen sich KünstlerInnen erstmals als solche war und nicht nur als HandwerkerInnen, insofern ist es naheliegend, dass Parmigianino sein „Arbeitswerkzeug“, das, was ihn besonders macht und auszeichnet, so prominent darstellen wollte.

Kunst gucken: Unpainted 14, Postpalast München

Ich klaue mal von der offiziellen Website: „Die UNPAINTED media art fair ist Münchens erste Messe für digitale Kunst und Medienkunst.“ Heißt im Klartext: relativ wenig Raum für relativ viele Kabel, Monitore, Festplattenrecorder, DVD-Player und Ausstellungsstücke. Im runden Postpalast konnte man in der Mitte halbwegs ordentlich um die Kunstwerke rumgehen oder auch mal Abstand zu ihnen gewinnen; in den umliegenden Kabinetten war das manchmal etwas schwerer, weil die gerne sehr voll waren und gefühlt zehn Quadratmeter pro Kabinett eben schnell voll sind. Daher sind mir auch mehr im Innenraum Werke aufgefallen, weil ich bei denen nicht ständig das Gefühl hatte, irgendwem im Weg zu stehen.

Meine erste Entdeckung ist schon über 20 Jahre alt, aber das würde ich mir sofort an die Wand hängen: Die Serie Leaving Shadows (1989–97) von Stephan Reusse hat mir sehr gefallen. Am ersten Bild stand noch nichts von den Schatten dran, daher habe ich mir selbst zusammengereimt, dass das wohl Wärmespuren sind oder einfach gefakte Hinterlassenschaften eines Menschen, der jetzt nicht mehr da ist. Mir gefiel es sehr, einen Gegenstand zu sehen, der noch menschliche Spuren trägt, eine Erinnerung, eine Anmutung – ein totes Objekt zeigt ein lebendes. In der Ausstellung hingen unter anderem der Blue Chair (siehe Link) und der Thonet Chair, der leider nicht online ist, aber für 5.400 Euro meiner gewesen wäre.

Ebenfalls auf meiner Einkaufsliste hätten die Aluminium-Captchas von Aram Bartholl gestanden (Serie Are You Human? (2009–13), die ich schlicht clever finde. Beim Durchblättern des Ausstellungskatalogs fiel uns auf, wie viel man von Bartoll kennt: Map zum Beispiel, die Dead Drops oder How to Build a Fake Google Street View Car – alles Werke, die man durch Twitter oder Blogs mitbekommen hat, was für mich schön die Vernetzung von Netzkunst zeigt.

Sehr gut unterhalten hat mich Uterus Man (2013), ein Anime von Lu Yang, der netterweise komplett online steht (ihr könnt euch also die 15 Euro Eintritt sparen, aber die Ausstellung läuft eh nur noch heute). Ich mochte die Idee sehr, dass eine ureigene weibliche Eigenschaft als Superkraft interpretiert wird, was sie ja auch ist – da können wir mal etwas, was wirklich noch kein Mann jemals hinbekommen hat. Bis Uterus Man kam, der die Nabelschnur als Peitsche benutzt, eine Monatsbinde als Skateboard und das Baby als Waffe. Ist übrigens sehr interessant, wie er das Baby zur Welt bringt. Ich stand elf Minuten gut unterhalten im Kabinett.

Uterus Man full version 2013 finally released !!! by LuYang from LuYang on Vimeo.

Ich verweilte noch bei Sabine Pigalle, deren Dutch Last Supper (2012) mir natürlich gefallen hat, weil es so viel verbindet: ein klassisches Motiv (Abendmahl) mit klassischen Stilrichtungen (Stillleben) und der feministische Blick, indem die Männer aus dem Original zu Frauen wurden. Ihre Timequakes von 2011 und 2012 haben sich mir allerdings erst nach dem Blick auf ihre Website erschlossen: Eigentlich fand ich die Idee, moderne Menschen in alte Gemälde zu platzieren, eher so meh. Wenn man allerdings weiß, dass die Hintergründe die flackernden Lichter von Tokio sind, wo Pigalle sich während eines Erdbebens aufhielt, werden die Bilder plötzlich geerdet. Plötzlich hält man sich wieder an Althergebrachtem fest, während einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Dann lungerte ich bei Jacques Perconte rum, der es geschafft hat, dass mich zeitverzögerte Pixel an Monet erinnern. Sein Santa Maria Madalena (2013) ließ mich an die Zeit denken, als ich noch mit meinem 14.000er-Modem die Telefonkosten in die Höhe jagte, um mir dreiminütige Filmclips anzuschauen, die eine Stunde zum Laden brauchten und dann gerne mal so verzerrt waren wie Percontes Videos. Künstlerisch kann ich zu den Werken nichts sagen, außer dass sie mir persönlich gefallen habe, weil sie so schön in meine Biografie passen. Einer der ersten Maler, die ich mir gemerkt habe, war Monet mit seinem Seerosenteich, der in meinem liebsten Kinderkunstbuch abgebildet war. Dann wurde ich erwachsen und sprang ins Internet, und 20 Jahre später studiere ich Kunstgeschichte, stehe auf einer Kunstmesse und werde gleichzeitig an meine 20er und meine Kindheit erinnert. Well done, Jacques.

Jacques Perconte – Santa Madalena Rocha (madeira) – Enregistrement n°1 from Galerie Charlot on Vimeo.

Mein Liebling im Gewusel war ein Künstler namens Quayola. Er bezog sich auf die Werke Michelangelos (schon gewonnen). Seine Kunststoffskulpturen Captives (2013) reflektierten die Unfertigkeit vieler Stücke, die Michelangelo nie vollendet hatte. Die waren spannend, aber was mich wirklich begeistert hat, war eine Serie, die leider nicht online ist und deren Titel ich mir bräsigerweise auch nicht gemerkt habe. Man sah zwei Rahmen, in denen eine Skulptur von Michelangelo von einer sich ständig bewegenden Flüssigkeit überspült war – die Skulptur war nie ganz zu sehen, immer nur als Fragment. Ich mochte die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Skulptur, die mir durch ihre Dreidimensionalität eine vollständige Ansicht gewährt – ich kann um sie herumgehen und sie mir von allen Seiten betrachten. Hier war sie auf einmal zweidimensional und nie ganz zu sehen, was mich gleichzeitig irre und sehr neugierig gemacht hat.

Online und mein Favorit von gestern: Strata #1 (2008) – von Strata gibt es mehrere Versionen, und überhaupt solltet ihr euch einfach die ganze Website anschauen. Ich kann gar nicht genau sagen, was mich so an diesem Video fasziniert hat – vielleicht ist es schlicht der Kontrast aus dem ewigen Kunstwerk mit den 500 Jahre alten, exakt komponierten Farben, aus dem plötzlich eben diese Farbtöne vorwitzig ausbrechen und sich neu und individuell arrangieren, sich zu neuen Konstellationen verbinden, neue Formen einnehmen und dazu auch noch einen schönen Soundtrack haben. Auch im Hinterkopf: der Anspruch der Kirche auf die einzig seligmachende Wahrheit, an dem plötzlich gerüttelt wird, Kunst, die sich gegen Dogmen stellt usw.

Strata #1 from Quayola on Vimeo.

Es gab noch viel mehr – viel zum Anfassen und Rumspielen, Werke, die plötzlich Töne von sich gaben oder sich veränderten, je näher man ihnen kam, alles hübsch, alles bunt, aber die obenstehenden Werke waren die, die mich wirklich beeindruckt haben. Einziger Wermutstropfen: Jetzt, wo ich Kunstgeschichte studiere, um mir den ganzen modernen Kram anständig erschließen zu können, habe ich keine Werbungshonorare mehr, um mir den ganzen modernen Kram auch leisten zu können. Irgendwo ist da immer noch ein Fehler in der Matrix.

Stillleben

Bei BBC4 gab’s eine sehr schöne Sendung zum Thema Stillleben: How to make a still life painting (leider nicht mehr online). Daraus habe ich mir ein paar Fetzen gemerkt, unter anderem natürlich meinen Liebling Cotán.

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Juan Sánchez Cotán: Stilleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke (ca. 1602), Öl auf Leinwand, 68,9 x 84,5 cm, San Diego Museum of Art. Bildquelle: Wikimedia Commons.

Zum oben stehenden Stillleben hat Ori Gersht eine filmische Variante geschaffen. Pomegranate von 2006 ist hier in einem längeren Ausschnitt zu sehen. Oder gleich hier:

Ori Gersht, Pomegranate, 2006 from Noga Gallery of Contemporary Art on Vimeo.

Im Film kommt außerdem der Philosoph Alain de Botton zu Wort, der aus seinem Buch Wie Proust Ihr Leben verändern kann* zitiert. Es geht um einen traurigen jungen Mann, den Marcel Proust kurzerhand zu den Stillleben Jean Chardins im Louvre schickt. Das Artblog hat den längeren Abschnitt, aus dem de Botton im Film zitiert, veröffentlicht. Ich fasse mich kurz, aber ich empfehle euch wirklich, da mal rüberzuklicken – ihr findet eine sehr schöne Beschreibung der Kunst Chardins:

„After an encounter with Chardin, Proust had high hopes for the spiritual transformation of his sad young man.

‚Once he had been dazzled by this opulent depiction of what he called mediocrity, this appetizing depiction of a life he had found insipid, this great art of nature he had thought paltry, I should say to him: “Are you happy?”‘

Why would he be? Because Chardin had shown him that the kind of environment in which he lived could, for a fraction of the cost, have many of the charms he had previously associated only with palaces and the princely life. No longer would he feel painfully excluded from an aesthetic realm, no longer would he be so envious of smart bankers with gold-plated coal tongs and diamond-studded door handles. He would learn that metal and earthenware could also be enchanting, and common crockery as beautiful as precious stones. After looking at Chardin’s work, even the humblest rooms in his parents’ flat would have the power to delight him.“

Der Künstler Mat Collishaw (den ich nebenbei mal wieder in einer Vorlesung kennengelernt habe und zwar mit seinem Werk Bullet Hole, das in der wichtigen Ausstellung Freeze von 1988 zu sehen war) nutzte die alte Technik des Stilllebens für ein makrabes und gleichzeitig faszinierendes, fotografisches Arrangement: Er inszenierte die letzten Mahlzeiten von Menschen kurz vor ihrer Hinrichtung. Auf seiner Website finden sich die Bilder von Last Meal on Death Row, Texas (2011).

Ich finde die Stelle im Film leider nicht mehr, aber einer der Kunsthistoriker, die zu Wort kommen, erwähnt Rachel Ruysch, eine der wenigen weiblichen Künstler, die in der Sendung erscheinen. (Wenn ich mich richtig erinnere, hängt auch in der Hamburger Kunsthalle ein Bild von ihr.) Er erklärt, dass Frauen eher Stillleben malten als figürliche Darstellungen, einfach aus dem Grund, weil sie in der Akademie, sofern sie überhaupt zugelassen wurden, nicht an den Aktkursen teilnehmen durften, in denen unbekleidete Männer rumstanden. „They weren’t allowed to look at naked men, but they were allowed to look at a bunch of grapes.“

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Kunst gucken: Eva Hesse/Gego, Kunsthalle Hamburg

Es gibt ein Gefühl, das ich bisher nur nach aufwühlenden Kinofilmen oder Opernaufführungen kannte; wenn ich aus dem dunklen Zuschauerraum, in dem ich kurz Teil einer anderen Welt war, wieder hinaustrete und die Realität vor den Kopf geknallt kriege. Das Gefühl, diese Realität sofort wieder von mir wegstoßen, sie von mir abwischen zu wollen in ihrer Hektik, Lautstärke, dummen Nervigkeit. Dieses Gefühl kenne ich jetzt auch nach einem Ausstellungsbesuch.

In der Kunsthalle bzw. der Galerie der Gegenwart läuft noch bis zum 2. März eine Doppelausstellung von Eva Hesse und Gego. Zusätzlich ordnet die dritte Ausstellung Serial Attitudes die beiden Künstlerinnen in ihr zeitliches und künstlerisches Umfeld ein, was den Besuch perfekt macht. Ganz simpel ausgedrückt: Wenn man sich den ersten Stock und die Serial Attitudes anguckt, sieht man sofort, was an Hesse und Gego so besonders ist. Das heißt, man braucht kein Vorwissen und keine drei Semester Kunstgeschichte, sondern nur einen aufmerksamen Blick und ein bisschen Zeit. Wobei ich trotzdem ganz dankbar für die drei Semester Kunstgeschichte war, denn so konnte ich bei Serial Attitudes wieder die ganze Zeit innerlich rumquietschen, kenn’ ich, kenn’ ich, ha! Und weniger quietschig: Kannste dir gleich alles für die Klausuren im Februar über amerikanische Kunst und Ausstellungskonzepte merken.

Ich habe im dritten Stock mit Hesse angefangen. Das erste Objekt, um das ich ewig rumgeschlichen bin, war Accession III (1968), ein Würfel aus Glasfaser, Polyesterharz und Kunststoff, der in einem Raum stand mit Accretion (1968) und Repetition Nineteen III (1968).

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Eva Hesse, „Accretion“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 50 Röhren zu je 147,5 x 6,3 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo/Niederlande.
Foto: Abby Robinson, New York
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Dass die drei Werke in einem Raum stehen, fand ich sehr schön, denn diese Aufstellung erinnert an die einzige Einzelausstellung, die Eva Hesse in ihrer kurzen Lebenszeit in den USA hatte: In der Fischbach Gallery in New York waren 1968 genau diese Werke ebenfalls in einem Raum versammelt, wenn auch in leicht anderer Anordnung. Aber das ist nur ein nettes Kopfnicken – was viel spannender ist, sind die drei Objekte.

Über Accession III habe ich mich gefreut, weil ich eine Variante, Accession II, schon in einer Vorlesung gesehen hatte. Mal wieder der Gemeinplatz: Bilder und Skulpturen direkt vor der Nase sind was anderes als Bilder und Skulpturen per Powerpoint oder Buch. Ich mochte die Materialität, den Kontrast zwischen den runden, weichen Röhrchen und den klaren, harten Kanten, die sie begrenzen. Noch besser gefallen hat mir allerdings Accretion, das schlicht durch seine Größe beeindruckt. Das sieht man auf dem Detailfoto leider nur im Ansatz, aber die 50 Röhren nehmen eine gesamte Wandlänge ein. Man kann ein, zwei, fünf Meter zurückgehen und das üppige Werk auf sich wirken lassen. Mir hat es gleichzeitig eine positive Verspieltheit als auch eine tiefe Ruhe durch seine Schlichtheit vermittelt. An den beiden Exponaten sieht man auch gut den Unterschied zwischen Hesses Postminimalismus und dem Minimalismus, dem man im ersten Stock begegnet. Wo der Minimalismus meist streng und gerade daherkommt und im Hinterkopf mathematische Formeln oder absolute Symmetrie mit sich rumschleppt, bricht der Postminimalismus hier und da ein Eckchen ab, nimmt es mit den Abständen zwischen den Einzelteilen des Objekts nicht so genau, nutzt weichere Materialien oder sichtbare Handarbeit, kurz: bringt wieder etwas Menschlichkeit in die immer noch klaren Konstrukte.

Das einzige, was an dem Raum ein winziges bisschen gestört hat, war die konsequente Aufmerksamkeit des Wachpersonals. Normalerweise gehen die AufseherInnen netterweise aus den Räumen, wenn man alleine reinkommt oder wenden sich ab, damit man sich nicht so beobachtet fühlt. Das Dumme an diesem Raum – was gleichzeitig das Tolle ist –: Die Exponate sind nicht abgesperrt, kein Seil oder Verglasung stört den unmittelbaren Kontakt zwischen BetrachterIn und Kunst. Das ist wunderbar, bedeutet aber auch, dass die AufseherInnen dafür sorgen müssen, dass man nicht zu nah rangeht. Um mich nicht ganz so doof zu fühlen, habe ich die Dame einfach mal angesprochen, ob sie gerne hier steht oder lieber drüben bei den alten Meistern. Sie meinte freundlich, dass sie die gegenständliche Kunst lieber möge, weil sie „das hier“ alles nicht verstehe. Da ist mir wieder aufgefallen, dass mir mein Studium ein weiteres großes Geschenk gemacht hat: Ich habe mich schon länger davon verabschieden können, irgendwas an der modernen Kunst verstehen zu wollen. Ich kann sie mir inzwischen einfach anschauen, ihre Konzepte würdigen und vor allem gucken, was sie mit mir macht. Meiner Meinung nach ist das die Triebfeder für Kunstgucken: Was passiert mit mir, in mir, wenn ich mich mit einem Objekt konfrontiere? Eigentlich genau das gleiche Motiv wie für einen Besuch im Theater oder der Oper, bei der man ja eh meist die Stücke kennt – und trotzdem sind sie jedesmal anders, und ich komme jedesmal anders aus ihnen heraus.

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Eva Hesse, „Repetition Nineteen III“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 19-teilig, je 48,3 x 27,9 cm (Durchmesser), The Museum of Modern Art, New York.
Foto: The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Meine liebste Skulptur gibt’s leider nicht als Pressefoto: No title (Seven Poles) von 1970, das einen Raum fast für sich alleine hat. Man kommt in den Raum hinein und hat dementsprechend erstmal eine Perspektive vorgegeben, aus der man sich das Werk betrachtet. Mein Kopf hatte sich bis hierhin brav zurückgehalten mit Interpretationen oder Assoziationen, aber hier klickte sofort was im Hirn und ich bekam die Ansage: Sieht aus wie Beine. Dagegen konnte ich dann auch nichts mehr machen, ging um das Werk herum und bemerkte, dass es sich gefühlt bewegte! Ich konzentrierte mich auf ein „Beinpaar“ und guckte, wie sich die Formation der anderen „Beine“ entwickelte, wenn ich meine Perspektive änderte. Und wo ich zunächst dachte, das sind gelangweilte Menschen, die auf einer Cocktailparty eng beieinander stehen und Smalltalk machen, sah es von der anderen Seite aus wie hektisches Großstadtleben, wo man fast über den Haufen gerannt wird.

Was mir an Seven Poles noch aufgefallen ist, allerdings eher bedauernd, ist die Fragilität der Exponate. Was Hesse zu Lebzeiten so besonders gemacht hat, nämlich das Benutzen und Verarbeiten von neuen, modernen Materialien, wird ihrem Werk jetzt zum Verhängnis. Es vergilbt und bröselt, der Draht, der die „Beine“ bildet, scheint zu rosten. Ein paar Räume vor den Poles hing ein weiteres Werk, das mich lange fesseln konnte: Sans II, das aus fünf einzelnen Zellkästen besteht, die blöderweise sonst in fünf unterschiedlichen Museen hängen. Hier ist die Skulptur wieder vereint und beeindruckt, genau wie Accretion, durch ihre raumgreifende und raumdefinierende Größe. Durch die fünf unterschiedlichen Aufbewahrungsorte und -umstände ist es unterschiedlich stark nachgedunkelt, was den Zusammenhalt des Werks etwas stört, es aber gleichzeitig nahbarer macht. Es scheint ein Eigenleben entwickelt zu haben, einen Charakter – und man sieht ihm die Vergänglichkeit an. Ehe ich mich allerdings in morbide Gedanken vertiefen konnte, habe ich mich lieber an den Strukturen erfreut. Auch hier kann man die Handarbeit erkennen, die Hesse verrichtet hat, um industriellen Materialien eine emotional fassbare Form zu geben. Die Zellen sind nicht exakt rechtwinklig, sie scheinen auszufasern; die Linie, die ihre Fassung erzeugt, scheint zu vibrieren, es entsteht in der Mitte des Werks fast eine kleine Welle, der ich recht lange mit den Augen gefolgt bin. Genau wie bei Accretion habe ich Ruhe und Besinnung gespürt.

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Eva Hesse, „Sans II“ (1968), Glasfaser und Polyesterharz, 96,5 x 218,4 x 15,6 cm (ein Element von fünf), Museum Wiesbaden.
Foto: Ed Restle, Museum Wiesbaden
© The Estate of Eva Hesse. Courtesy Hauser & Wirth

Gego ein Stockwerk tiefer hat hoffentlich etwas beständige Materialien verwendet, jedenfalls sieht das alles etwas zeitloser aus. Ihre Skulpturen bestehen aus Draht, Stahl, Aluminium – eigentlich hartes, kantiges Zeug, aber sie verwandelt es in filigrane Objekte, die wunderschön inszeniert sind. An einer Wand stand ein Zitat von ihr, das die Ausstellung „Line as Object“ gut zusammenfast: „There is no danger to get stuck, because with each line I draw, hundreds more wait to be drawn. That is the circle of knowledge with the ring around; you enlarge the inner circle and the outer one becomes greater without end.“ Den Satz habe ich natürlich sofort auf mich, mein Studium und meinen Wissendurst bezogen. War klar.

Ich habe mich bei ihr sehr auf die Formen konzentriert, die durch das Verbinden von Linien aus Stahl entstehen. Eins ihrer Werke, Tronco N. 5 von 1968, besteht nur aus Dreiecken. Ein paar Meter weiter steht ein anderer Stamm (Tronco 8 von 1977), der sich aber aus unterschiedlichen Formen zusammensetzt. Plötzlich taucht ein Fünfeck auf oder ein Vieleck, das den Blick auf das Innere des Stamms freizugeben scheint, obwohl der ja sowieso nie behindert ist.

Bei Hesse habe ich kaum auf das Umgebungslicht geachtet, hier ist es mir aufgefallen. Die Werke sind teilweise sehr exakt beleuchtet, stehen quasi im Scheinwerferlicht, während der Raum dunkler ist. Das hat mir persönlich sehr gefallen, und auch wenn ich kein Objekt vernünftig fotografiert gekriegt habe – die Raumatmo habe ich einfangen können. (Bei Hesse durfte man nicht fotografieren, in den anderen beiden Stockwerken schon.)

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Gego, „Tronco N. 8“/Detail (1977), Stahldraht, Bronze, Metallklammern, 150 x 70 cm, Fundación Gego Collection at the Museum of Fine Arts, Houston.

Der erste Stock mit den vielen Minimalisten ist, wie gesagt, eine wirklich gute Einordnung. Hier erfreute ich mich unter anderem an der Exaktheit von Donald Judd, dessen Boxen ich aus der Pinakothek der Moderne kenne, an den Lichtspielen von Dan Flavin und vor allem an einem Raum, in dem sich zwei Stoffskulpturen von Robert Morris und eine von Franz Erhard Walther versammeln. Die beiden Morris-Werke hängen an den Wänden und sind grau und schwarz, während die weißen Falttaschen von Walther den Boden bedecken. Ich mochte den Kontrast zwischen den beiden Aufbewahrungsorten, also der Wand und dem Boden, einmal klassisch, einmal modern, und das Farbspiel, das sich zwischen den Exponaten ergab.

Ich habe mich außerdem über ein Wiedersehen mit Bill Bollingers Pipe gefreut, das ich (natürlich mal wieder) von einer Folie kenne. In der Vorlesung über Ausstellungskonzepte sprachen wir über die Wundertüte When Attitudes Become Form (Bern 1969), in der unter anderem Morris, Bollinger und Eva Hesse zu sehen waren, wobei Pipe direkt neben Hesses Augment lag, das auch gerade in Hamburg zu sehen ist.

tl;dr
Bitte dringend alle drei Stockwerke angucken. Ich war wissenschaftlich beeindruckt und grönerig verzaubert.